DER ARCHITEKTURDOKTOR

Friedensreich Hundertwasser

Seit es indoktrinierte Stadtplaner und gleichge­schaltete Architekten gibt, sind unsere Häuser krank. Sie werden nicht erst krank, sie sind schon als kranke Häuser konzipiert und zur Welt gebracht worden.

Diese vielen Häuser, die wir alle tausendfach erdul­den, sind gefühls- und emotionslos, diktatorisch, herzlos, aggressiv, gottlos, glatt, steril, schmuck­los, kalt und unromantisch, anonym und haben gähnen­de Leere.

Sie sind ein Trugbild der Funktionalität. Sie depri­mieren derart sowohl die Bewohner als auch vorbei­gehende Menschen.

Man bedenke: 100 Menschen wohnen in einem Haus, aber 10.000 Men­schen gehen und fahren täglich daran vor­bei und diese leiden genauso sehr wie die Bewohner, sogar noch mehr an der deprimierenden Ausstrahlung der Fassade eines herzlosen Hauses.

Auch die Krankenhäuser sind krank.

In konzentrationslager- und kasernenartigen nivel­lierenden Bauten wird das Wertvollste vernichtet und gleichgeschaltet, was ein junger Mensch der Gemein­schaft mitbringt: die spontane, individuelle Kreati­vität.

Diese kranken und krankmachenden Häuser können

Ar­chitekten nicht wieder gesund machen, denn sonst hätten sie sie gar nicht gebaut.

Also muß ein neue Berufszweig her:

der ARCHITEKTUR­DOKTOR.

Der Architekturdoktor tut nichts anderes als Men­schenwürde und Harmonie mit der Natur und mit der menschlichen Kreation wiederherzustellen. Ohne erst alles abzureißen, nur mit Änderungen an strategi­schen Punkten, ohne viel Mühe und finanzielle Mit­tel. Dazu gehört das Entgradigen von begra­digten Flußläufen ebenso wie das Brechen der sterilen, flachen Skyline, die Umwandlung von Böden in eine unebene, wellige Fläche, das Wachsenlas­sen von Spon­tanvegetation in Pflasterfugen und Mauerritzen, wo es nicht stört, die Variierung von Fenstern und unregelmäßige Abrundung von Ecken und Kanten.

Der Architekturdoktor ist auch für noch entscheiden­dere chirurgische Operationen, wie Wegschneiden von Mauern, Setzen von Türmen und Säulen zuständig.

Man braucht nur das Fensterrecht gestatten lassen, das Dach begrünen und bewalden, die Mauerkatze wach­sen lassen und Baummieter installieren.

Wenn man die Fenster tanzen läßt, dadurch daß man sie verschiedenartig gestaltet und auch sonst so viele Unregelmäßigkeiten wie möglich an Fassaden und im Inneren unterbringt bzw. geschehen läßt, so kann das Haus genesen. Das Haus beginnt zu leben.

Jedes noch so häßliche und kranke Haus kann geheilt werden.

 

Verfasst am 24. Januar 1990, zur Publikation in der Arbeiterzeitung, Wien.

Publiziert in:

Arbeiterzeitung, Wien, 12. Februar 1990

Rand, Harry: Hundertwasser, Köln: Benedikt Taschen Verlag 1991, S. 169, gekürzte Ausgabe 1993 und Ausgabe 2003, S. 147

Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 175

Décimo, Jean-Michel (ed.), Le goût de l'architecture. Paris: Mercure de France 2014, S. 89-91 (Französisch)

Hundertwasser The Green City, Katalog zur Ausstellung, Sejong Museum of Art, Seoul, 2016, S. 164-165 (Englisch/Koreanisch)