BRÔ

Friedensreich Hundertwasser

Brôs Tod war seltsam und überaus mysteriös, ähnlich wie es oft großen Persönlichkeiten der Menschheit passiert, die einfach verschwinden. Ich habe seither nicht aufgehört, mit ihm zu sprechen.

Es ist, als ob ich ihm etwas schuldig wäre. Würde ihm das, was ich tue, gefallen oder nicht? Ich sehe mit Brôs Augen. Oder ich versuche es, instinktiv. Die Beerdigung war außergewöhnlich. Niemals, so scheint es mir, hat es derart viel Schnee in Paris gegeben. Die Messe fand in der römisch orthodoxen Kirche Saint-Julien-le Pauvre statt, genau gegenüber den Fenstern des Hauses in der rue Galande, wo Brôin seinen letzten Jahren gelebt und gemalt hat und von wo er merkwürdigerweise ins Nichts verschwand – genau auf Brôs Art. Als ob er nicht wollte, daß man ihn wieder fände.

Ich hatte ein Auto gemietet, bin aber im Schneesturm zu spät auf den Friedhof gekommen.

Ich habe nur die frische Erde gesehen.

Vom Grab aus sieht man das Gutshaus von Courgeron.

Von Hügel zu Hügel.

Brô ist ganz einfach zu groß, zu anders, er handelt nach anderen Maßstäben, auf einem anderen Niveau, um von den anderen gesehen zu werden. Um ihn zu sehen, müßte man hinaufsteigen, oder er herunterkommen.

Ich war ein kleiner, unbedeutender Österreicher, als ich Brô, Bernard und Micheline in der Toskana begegnete. Wir waren alle per Autostopp unterwegs, überwältigt von der Schönheit Sienas, von San Gimignano, Pompeji, Taormina und Palermo, von der Kunst, der Architektur und von der Natur.

Ich muß zugeben, daß ich anfangs von der außergewöhnlichen Schönheit Michelines angezogen war, die jedoch nur für Brô und Bernard Augen hatte. Ich war nur ein Anhängsel, ein Begleiter, jemand, den man auf der Straße gefunden hat. Sie wußten es vielleicht nicht, aber es war ein außerordentliches Geschenk für mich, von ihnen aufgelesen worden zu sein. Denn in diesem Augenblick hat mein Leben wirklich begonnen. Ich verdanke ihnen meine Geburt als Maler. Vor allem Brô hat mir die Augen für eine großartige Welt geöffnet, von der ich zuvor ausgeschlossen war und zu der ich keinen Schlüssel hatte.

Es war im Sommer 1949. Alle Drei waren auf fanatische Art anders als die anderen Sterblichen. Sie benahmen sich ganz selbstverständlich so, als hinge einzig von ihnen die Wiedergeburt der Kultur der ganzen Menschheit ab, der religiösen und künstlerischen. Sie vertraten ein Programm, eine selbst erdachte universelle Ideologie. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.

Sie gaben sich mit Bart oder Glatze, mit chinesischen Hüten und trugen sehr einfache, nach eigenen Entwürfen selbst genähte Kleider, die durch ihren raffinierten Stil an die Eleganz im alten Ägypten erinnerten. Mit nackten Füßen oder mit speziellen, ebenfalls selbst entworfenen Sandalen wirkten sie selbst wie eine Wanderausstellung der Mode kommender Jahrhunderte. Mit ihrem Benehmen, das nichts bohémienhaft Pittoreskes an sich hatte, vermittelten sie eine Ernsthaftigkeit wie Pioniere einer besseren, unendlich viel schöneren und gerechteren Welt.

Die höchste Ordnung durch Schönheit zu erreichen war nicht mehr eine Utopie, sondern ein auf sehr natürliche, lebensnahe Weise gangbarer Weg.

Brô und Bernard übertrafen sich gegenseitig mit ihren erfinderischen Ideen betreffend Kleidung, Malerei, Philosophie und Literatur und mit ihren menschlichen Heldentaten, wobei sie Micheline, die mit ihren riesigen Augen, ihrer ägyptischen Nase und ihren langen schwarzen Haaren alles dominierte, zu ihrem Schiedsrichter ernannten.

Und dann die täglichen Dramen zwischen den Dreien! Ich hatte so etwas weder jemals gesehen noch erlebt, nicht einmal in den extravagantesten und verrücktesten Filmen oder Romanen. Das war ein Duell von Giganten aus einem anderen Universum, bei dem ich Zeuge war. Schließlich entschied sich Micheline für Brô. Auf einem offenen Lastwagen, nachts unter freiem Himmel, machten wir dann Autostoppvon Taormina nach Messina.

In Palermo sind wir dem Tipp anderer Autostopper gefolgt und haben uns mit Bahn und Omnibus gratis bis nach Ventimiglia an die französischen Grenze zurückbringen lassen. Der „Omnibus“ ist mit einer Reisedauer von drei Tagen und zwei Nächten von Süden nach Norden der langsamste Zug, den es gibt. Die italienischen Carabinieri haben uns den französischen Zollbeamten übergeben, die den Kopf schüttelten, denn als Österreicher hätte ich an die österreichische Grenze überstellt werden sollen. Aber so habe ich Frankreich betreten, wo man mich „Monsieur“ nannte, was mich sehr beeindruckte.

Brô war immer mit allen möglichen Behörden und ihren Papierkram verwickelt. Es graute ihm davor. Ich erinnere mich, daß Brô friedlich mit seinem Phantom in seinem Herrenhaus in Courgeron lebte und die mit Obstbäumen übersähten Ebenen der Orne malte, mit ihren sanften verschlungenen Hügeln am Horizont.

Wir waren sehr gute Freunde, haben aber sehr selten zusammengelebt. Einmal im Winter telefonierte ich mit Brô von Venedig oder von Wien aus. Er sagte mir, es ginge ihm gut aber sein Phantom habe Schnupfen und Husten.

Sein Atelier war im ersten Stock des Gutshauses von Courgeron, erreichbar über eine sehr alte steinerne Wendeltreppe, die sich – wie in allen Schlössern, die diesen Namen verdienen –spiralförmig aufwärts wand.

Es gab keinen Strom. Man zündete Petroleumlampen an und holte sich das Wasser in Eimern aus einem 50 Meter tiefen Brunnen weiter unterhalb des Hauses. Auf Drängen seiner Freunde fand Brô sich schließlich damit ab, die Einleitung von Strom zu veranlassen. Es war eine Qual für ihn, Formulare auszufüllen und bei der EDF (franz. Elektrizitätsgesellschaft) in Argentan vorzusprechen, da er überdies nie mit dem Auto fuhr, und dann mit Postanweisungen zu bezahlen, die er auch auszufüllen hatte.

Und Brô wartete auf die Einleitung des elektrischen Stroms, der niemals kam. Nach langem Warten mußte er wegfahren, ohne jemals elektrisches Licht gehabt zu haben.

Als Brô an einem finsteren Abend von einem Aufenthalt in Venedig oder Amerika zurückkam und hoffnungsvoll einen neuen Lichtschalter aufdrehte, rührte sich nichts. Hingegen hatten sich eine Menge Briefe im Briefkasten am Eingang zu seiner Lindenallee angesammelt. Nachdem er wie gewohnt seine Petroleumlampen angezündet hatte, las er seine Briefe, darunter einen von der EDF betreffend Einzahlung des Restbetrages, der für die Einleitung von elektrischem Strom fällig war, einen anderen mit der Aufforderung, die Rechnung für den Stromverbrauch zu bezahlen! Des Weiteren einige Mahnungen und Aufforderungen zur fristgerechten Zahlung… andernfalls wäre man gezwungen, ihm den Strom abzudrehen.

Und dann noch Briefe, die ihn von der erfolgten Abschaltung des Stroms in Kenntnis setzten, mit gleichzeitigen Zahlungsaufforderungen für die dafür entstandenen Kosten sowie Geldstrafen für nicht getätigte Zahlungen.

Man muß sich Brô vorstellen, der ohnehin zum Pessimismus neigte!

Das war wohl ein Unglück, wie es nur Brô passieren kann, und auch eines der Abenteuer, die für ihn typisch waren.

Brô fuhr abermals nach Argentan, um seine Rückstände und Geldstrafen zu bezahlen. All das und ein neuerlicher Antrag für die Wiedereinleitung von Strom. Während seines Aufenthaltes in Courgeron ließ die EDF auf sich warten und so reiste Brô neuerlich ab, ohne elektrisches Licht gehabt zu haben.

Als er nach einigen Monaten zurückkam, wiederholte sich die Geschichte. Kein Strom, stattdessen aber Rechnungen zu bezahlen für Einleitung und Absperren, Geldstrafen und Spesen.

Auf diese Weise zahlte Brô ein oder zwei Jahre lang für elektrischen Strom, ohne sich jemals daran erfreuen zu können.

Brô hat mir all das voll Bitterkeit ausführlich erzählt und hinzugefügt, daß er immer genau wußte, wo er sich befand, wenn er zu Fuß durch den Wald ging, um im Kaufladen von Pin au Haras Petroleum für seine Lampen zu kaufen.

Ein Bankkonto, von dem in seiner Abwesenheit die Zahlungen für die EDF automatisch abgebucht würden, hätte die Sache zusätzlich kompliziert gemacht. Noch mehr Formulare auszufüllen und die ständige Sorge um die Deckung seines Kontos. Es käme dadurch noch zu schlimmeren Katastrophen, z. B. durch Schecks ohne Deckung, die bis zur Beschlagnahme von Courgeron führen könnten. Mit einem Liter Petroleum hingegen ist man zufrieden und niemand ärgert einen.

Brô war eine lebende Enzyklopädie, er wußte alles. Er war ständig von wissenschaftlichen Büchern jeder Art umgeben, aus Philosophie, Geschichte, Alchemie, Politik, Kunst, Architektur, Botanik, Geographie usw., die auf den jeweils interessanten Seiten aufgeschlagen waren. Ich selbst, der nur Bildromane, Simenon und Pu der Bär las und Kreuzworträtsel löste, war beeindruckt.

Brô sprach lange von seinen Schlußfolgerungen und Ideen über die Zukunft, die Gegenwart und das Schicksal. Er war ein Gelehrter, ein Philosoph, mit dem Wunsch, die höchste Ordnung durch Schönheit zu erreichen. Genau das ist es, was die intellektuelle Avantgarde der Nachkriegszeit bis heute erbittert bestreitet, bis zur Maxime: Alles Schöne ist schlecht, alles Häßliche ist gut. Das ist so einfach und so falsch. Brô und ich hatten fast immer genau dieses Gesprächsthema. Wir waren allein gegen die Kulturintellektuellen, die sich durch das Bündnis mit den Linksintellektuellen, das damals in Paris herrschte, noch stärker hervorhoben.

Unter dieser zerstörerischen Diktatur der intellektuellen Macht, dieser Diktatur des Häßlichen und des Nichts, das sich in den Kunstkritiken, in den Museen und Galerien manifestierte, hat Brô viel mehr gelitten als ich.

Jede Begegnung mit Brô war ein Geschenk für mich. Er hat mir sein Haus in Ramatuelle gezeigt, wir sind zusammen auf meinem Schiff „Regentag“ von Venedig über das adriatische Meer bis nach Tunis gesegelt und Brô hat in der Nacht das Steuerruder gehalten. Wir haben im Winter bei der Hahnsäge, einem kleinen verlassenen Sägewerk inmitten eines Tannenwaldes am Kamp, bei minus 20º im Schnee gemeinsam gemalt. Wir haben oft Spaziergänge und -fahrten in der Gegend von Courgeron in der Normandie gemacht. Im Bottlehouse im Kaurinui-Tal auf Neuseeland waren wir das letzte Mal zusammen.

Ich stand ständig unter Druck, nicht genug für Brô zu tun, und fühlte mich schuldig, weil ich erfolgreicher war. Brô war oft schweigsam und traurig und einmal, erzählte ich ihm von meinen schlechten Kritiken, um ihn aufzuheitern, und zeigte ihm die, die mich am meisten betroffen und gedemütigt hatten. Da geschah etwas, womit ich absolut nicht gerechnet hatte: Er wurde noch ernster und sagte: „Ich hätte auch gerne schlechte Kritiken.“ Ich verstand, daß ich eine unverzeihliche Dummheit begangen hatte.

Brô akzeptierte es wie das Natürlichste auf der Welt, daß ich ihn einlud, an den verschiedensten Orten zu leben und zu malen: in Venedig in der Casa de Maria auf der Giudecca, gegenüber von San Marco, und im Haus des Parkwächters vom Giardino Eden vor der Lagune, in der Hahnsäge in Österreich, im Bottlehouse auf Neuseeland und in der rue Galande in Paris, von wo aus man den Glockenturm von Nôtre Dame sehen konnte.

So gelang es mir, auch seine Ausstellungen in Norwegen, in Wien, in Zürich, in Washington zu arrangieren, und ich bin stolz darauf, daß ich ihm einen lang gehegten Wunsch erfüllen konnte: eine Ausstellung auf Tahiti im Gauguin Museum.

Bereits am Anfang unserer Freundschaft hatte Brô mir ein kleines exotisches, sehr intimes, unendlich mitreißendes Buch gezeigt, das Gauguin selbst geschrieben und in schwarzweiß illustriert hatte.

Aber das alles war nicht genug, um Brô für alles, was er für mich getan hatte, zu danken. Dafür, daß er mich in der Toskana aufgenommen und mich nach Paris mitgebracht hatte, mich in seinem Atelier im Impasse des Sureaux in Charenton leben und wohnen ließ und vor allem dafür, daß er mir die Tür zum Reich der Schönheit geöffnet hatte.

Brô und ich haben einen weiteren Tausch gemacht. Er hat mir erlaubt, Mandelaugen zu malen, die hoch angesetzt in einem runden Gesicht liegen und die Augen von Micheline waren, vor allem aber auch die Augen der Mosaiken von Ravenna und der Malerei aus Siena.

Ich hingegen erlaubte ihm, runde Bäume mit einer Seele und einem Innenleben zu malen, mit einem Strahlenkranz und einem Lichtkreis, wie ich ihn bei dem deutschen Maler Walter Kampmann gesehen hatte. So haben wir Köpfe und Bäume gemalt, jeder ein bißchen auf seine Art.

In den Jahren 1949 und 1950 wohnte ich bei der Familie von Augustin Dumage, einem Freund von Brô und Bernard. Genau in diesem alten Jagdpavillon von Napoleon III am Rande des Waldes von Vincennes war es, wo Brô und ich zwei Wandgemälde zusammen geschaffen haben: „Das Land der Menschen, der Bäume und der Vögel“ und „Der wunderbare Fischfang“. Brô zeichnete und ich füllte mit Farben aus. Sehr oft malte auch Brô und ich zeichnete. Wir verwendeten Leim- und Kaseinfarben, die wir selbst mit gebranntem Kalk und Sauermilch herstellten.

Brô war auch mein Meister, der mich die Weisheiten des Lebens und des täglichen Überlebens lehrte. Er war ein Vorläufer der ökologischen Lehre. Er brachte mir zum Beispiel bei, wie man mit Weizen überlebt. Mit 5 Kilo einfachem Weizen, bei einem Bauern gekauft, kann man ein Monat lang zu einem Spottpreis leben, sagen wir mit 1 Franc – oder mit 5 Francs? Brô hat mir erklärt, daß der Staat den Bauern verbietet, Weizen im Kleinen an Private zu verkaufen. Der Staat hält den Weizen, den er als staatliches Monopol betrachtet, für das Vieh zurück um zu verhindern, daß die Leute Weizen für einen im Vergleich zu allgemeinen Nahrungsmitteln billigen Preis essen. Deshalb wird der Preis für Weizen im Geschäft künstlich höher gehalten als der Preis für Mehl oder Brot.

Brô wußte unendlich viele von diesen „Staatsgeheimnissen“. Weizen kann man für Suppen, Sauerteigbrot, Kaffee (gerösteter Weizen), grünen Salat (Weizenkeimlinge), Fladen und für eine Vielfalt anderer Gerichte verwenden. Brô hat mir die Herstellung von Weizenfladen beigebracht. Mit einer alten beeindruckenden, eisernen Weizenmühle mit Handkurbel schrotete er den Weizen nicht zu grob und nicht zu fein, ließ ihn 15 Minuten einweichen und verteilte ihn Form eines zentimeterdicken Fladens zum Grillen in einer heißen Pfanne. Das war Brôs Lieblingsspeise als Ersatz für Brot und Fleisch, mit deutlich höherem Nährwert und deftigem Geschmack. Diese Fladen esse ich oft und denke dabei an Brô. Nirgendwo anders habe ich jemals diese Fladen gesehen, weder im Restaurant noch bei Freunden, weder bei den Bauern noch bei den Ökologen. Ich frage mich, warum dieses so einfache, großartige und billige Gericht in unserer Weizenkultur weder bekannt ist noch hergestellt wird. Man sollte es nach seinem Erfinder „galette Brô“ nennen.

Kurz bevor er verschwand, hinterließ mir Brô Zeichen des Abschieds. Das waren kleine, eigenhändige Gemälde auf Alltagsgegenständen, ca. 10 x 10 cm, vor allem blaue Tropfen oder eher Pinselstriche auf silbernem Untergrund. Es ist seltsam und einzigartig, an welchen Stellen ich sie jeden Tag finde: auf den Türen in der Nähe der Griffe, an Tischecken, an den Ofenrohren, auf einer japanischen Lampe aus Papier und sogar mit weißem Stift auf einer Fliese. Ich möchte sie erhalten, gleichzeitig aber diese Gegenstände auch verwenden, und es ist manchmal schwierig, Putzfrauen, die alles abwischen wollen, zu erklären, daß diese Zeichen heilig sind.

Soviel ich weiß, haben mehrere Frauen Brô geliebt und geschätzt. Er hat mir niemals von seinen Liebesbeziehungen erzählt.

Brô flog in einem großen Bärenballon über uns hinweg. Wir blickten zu Boden, sonst hätten wir ihn gesehen. Wir sind noch nicht bereit für Brô. Seine Botschaft des Paradieses ist ganz klar, aber wohl verwahrt und geschützt in einem dicken und heiligen Buch, zu dem wir den Schlüssel verloren und noch nicht wieder gefunden haben.

 

 An Bord der Regentag, Neuseeland, April 1996.

Publiziert in:

Brô, Paysages et Figures, Ausstellungskatalog, Abbaye-Aux-Dames, Caen, 1996 (Französisch)