VERLORENE UND WIEDERGEWONNENE SCHÖNHEIT DER INDUSTRIEBAUTEN DURCH SCHÖPFERISCHE GESTALTUNG

Friedensreich Hundertwasser

Wir leben in einer großen Zeit des Umbruches, in einer Zeit der Wende.

Die Ära des absoluten Rationalismus geht zu Ende.
Einstein hat gesagt: „Wenn die Formel nicht schön ist, kann sie auch nicht richtig sein.“ Das ist genau das Gegenteil von dem, was die Funktionalisten, Rationalisten und Technokraten predigen.
Nicht ohne Grund waren die ersten technischen Einrichtungen vor 100 Jahren noch schamhaft verkleidet - die Autos als Pferdekutschen, die Maschinen, Aufzüge, Telefone, Gaslaternen, die elektrischen Luster, Metro- und Stadtbahn-Aufgänge waren Kunstwerke, die jetzt im Museum stehen.
Man wußte damals sehr genau, daß technische Rationalität eine Sünde ist, und hat sie hinter Kunst versteckt.
Heute erleben wir den Triumph der rationellen Technik, stehen jedoch gleichzeitig vor dem Nichts. Ästhetische Leere, uniforme Wüste, mörderische Sterilität, schöpferische Impotenz. Den Architekten entgleitet die Verantwortung ihres Tuns.
Die Architekten bauen verbrecherisch, menschenunwürdig oder zu Beton gewordene Schnapsideen.
Sie bauen Gefängniszellen, in denen die Seele des Menschen zugrunde geht. Der Architekt handelt wie ein Kriegsverbrecher, er befolgt gehorsam Befehle, auch gegen sein Gewissen. Er baut Krebsgeschwüre aus Beton, die die Natur zerfressen und den Menschen mit dazu.
Die moderne, sterile, herzlose Architektur entspricht nicht dem österreichischen Wesen, entspricht nicht dem österreichischen Gemüt und der österreichischen Mentalität.
Warum müssen wir internationales emotionsloses Mittelmaß in der Architektur übernehmen oder fremde Formen, die nicht herpassen?
Dabei ist das Zukunftsweisende nicht neu. Es handelt sich nur um die Wiedergewinnung der Menschenwürde in der Architektur.
Warum so herzlos mit dem Lineal hantieren, wo eh jeder weiß, daß die gerade Linie ein gefährliches, bequemes Trugbild ist, das uns ins Verderben führt.
Die Architekten verehren die gerade Linie, das Gleiche und das Glatte, das Vorfabrizierte. Auf dem Glatten rutscht alles aus. Auch der liebe Gott fällt hin.
Denn die gerade Linie ist gottlos.
Die gerade Linie ist die einzige unschöpferische Linie. Die einzige Linie, die dem Menschen als Ebenbild Gottes nicht entspricht. Die gerade Linie ist ein wahres Werkzeug des Teufels. Wer sich ihrer bedient, hilft mit am Untergang der Menschheit.
Industriegebäude sind heute zusammengestapelte Fertigteilbauten, wie Kisten oder Container.
Eigentlich kann jeder im Industriegelände bauen, wie er will, ohne irgendwelche Mindestanforderungen an Ästhetik, Menschenwürde und naturgerechtes Bauen. Sogar die Vorschriften, die es in der Stadt gibt, wie Stadtbilderhaltung und Rücksichtnahme auf die Umgebung, gibt es im Industriegebäude nicht.
Die Tätigkeit in so einem Industriegelände ist zur schöpferischen Impotenz verurteilt. Die Seele der dort arbeitenden Menschen geht zugrunde. Leblose Sterilität ist der Feind alles Lebens.
Abwesenheit jeglicher Kultur gibt Zeugnis des Tiefpunktes unserer Zivilisation. Am Beispiel Heizbetriebe Wien Spittelau wird ein Beweis erbracht, daß statt bestehender rationeller, unpersönlicher Architektur, an der wir alle leiden, ein schöpferischer Geist im Einklang mit der Natur zum Leben erweckt werden kann. Es soll ein Beitrag gegen die Anonymität in unseren Städten sein. Ich weiß, es gehört Mut dazu, Zukunftsweisendes zu realisieren, das heute noch als Blödsinn vom Establishment belächelt und bekämpft wird.
Die Kosten
Die rationelle Architektur kommt uns teuer zu stehen, denn die gigantischen Verluste, die sie verursacht, stehen in keinem Verhältnis zur scheinbar billigen Bauweise.
Man verwechselt wahre bleibende Werte mit kurzfristigem materialistischem Profitdenken. Wahre Werte sind erhöhte Lebensqualität, Gesundheit, Zufriedenheit, Sehnsucht nach Romantik, Individualität, Kreativität, ein Leben in Harmonie mit der Natur und mit den anderen Menschen.
Jeder weiß, daß Qualität am billigsten ist. Die Bilanz ist verfälscht, wenn man alle negativen Faktoren wie Vandalismus, Unzufriedenheit, Krankheit, etc. außer acht läßt.
Die vorfabrizierte Gestaltung bedeutet das Ende des Menschentums.
Nur wer schöpferisch denkt und handelt, lebt.
Wir sind eigentlich tot, weil wir nicht kreativ sind.
Im Industriebau wurde sehr gesündigt. Mehr gesündigt als in den Städten, an Menschen, die in den sterilen menschenunwürdigen Industriebauten mehr Zeit verbringen als zu Hause.
Es ist traurig, wenn man in Namen des Fortschrittes des industriellen Wachstums um jeden Preis die Tradition, das Kulturerbe und insbesondere auch die Seele des Menschen und des Volkes zerstört.

 

Verfasst 1989 anlässlich der Präsentation des Modelles für die Umgestaltung des Fernwärmewerkes Spittelau unter Verwendung des Textes „Die Kehrtwendung“ von 1979

Publiziert in:

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Köln: Taschen 1996, S. 190-192 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 160-162

Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 165-167

Hundertwasser The Green City, Katalog zur Ausstellung, Sejong Museum of Art, Seoul, 2016, S. 184-185, Auszug  (Englisch/Koreanisch)