BAUMMIETER BRIEF

Friedensreich Hundertwasser

Caro Giulio Macchi,


endlich habe ich Zeit, mich um die Triennale von Mailand zu kümmern. Ich bin sehr geehrt, daß ich daran teilnehmen kann. Ich habe viele Ideen zu realisieren.

Erstes Projekt: Ein Baum oder mehrere Bäume sollen aus den Fenstern wachsen. Große Bäume aus dem dritten oder vierten Stockwerk zum Beispiel. In einem Haus in der Ausstellung oder nicht weit davon. Dies soll etwas Bleibendes sein, also nicht nur für die Ausstellung.

Um ein Beispiel zu geben: So viel Raum in der monotonen sterilen Stadt ist nicht bewohnt. Also warum soll nicht ein Baum anstatt eines Menschen in einer Wohnung wohnen, wenn der Sauerstoff rar wird? Man braucht nur ein Fenster einer Wohnung und etwas Raum dahinter. Dies ist etwas sehr Wichtiges und kann die Stadt mehr revolutionieren, als wenn man nur die Dächer mit Wäldern bedeckt. Denn die Baummieter, die sich aus den Fenstern lehnen, die sieht man schon von weitem, an denen kann sich jeder freuen, die Dachgärten und Dachwälder sieht man meist von der Straße nicht.

Die dem Baum vermieteten Wohnräume müssen mit einer Lage Pirelli-Gummi oder Plastikfolie oder anderem Material isoliert werden bis zur Höhe des Fensterbrettes. Dann eine Woche mit Wasser angefüllt zur Probe, ob alles dicht ist.

Die Wohnungen werden dann mit Erde bis zum Fensterbrett angefüllt in zwei Schichten, erst Lecca oder Bimsstein, dann leichte Humus- oder Torferde, dazwischen eine wasserdurchlässige Schaumstoffschicht.

Die Baummieter werden mit Kränen von außen durch die Fenster in die Wohnung gehievt, so daß die Wurzeln im Erdreich fußen und die Baumkronen in den Luftraum der Straße ragen.

Die Wurzeln sind im dunklen Zimmer vergraben, das Laubwerk im hellen Tag.

Die Fenster müssen immer offen bleiben ohne Fensterscheiben, so daß also Luft, Regen, Hitze, Kälte, Wind, Schnee ungehindert eindringen können.

Dies ist der neue Lebensraum des Baummieters, der eben etwas anderes braucht als ein Mensch-Mieter. Der Raum muß vom Rest des Hauses total isoliert werden durch Isolierungsspezialisten. Das Regenwasser muß vom Dach mit einem Rohr eingeleitet werden und der Überschuß durch ein zweites Rohr wieder abgeleitet werden.

Die Autos haben die Bäume in die Stockwerke verdrängt. Die senkrechten sterilen Wände der Häuserschluchten, unter deren Aggressivität und Tyrannei wir täglich leiden, werden wie grüne Täler, wo der Mensch frei atmen kann.

Der Baummieter zahlt seine Miete mit Sauerstoff, durch seine Staubschluckkapazität, als Anti-Lärmmaschine durch Erzeugung von Ruhe, durch Giftvertilgung, durch Reinigung des verseuchten Regenwassers, als Produzent des Glücks und der Gesundheit, als Schmetterlingsbringer und durch Schönheit und mit vielen anderen Valuten.

Dies läßt sich alles in Geld umwechseln und ist mehr, als ein Mensch-Mieter mit einem Scheck bezahlen kann.

Hundertwasser

 

Geschrieben in Auckland, Neuseeland am 9. Juni 1973, Winter, anlässlich der Triennale in Mailand 1973.

Publiziert in:

contatto. arte/città. Quindicesima triennale. La nuova foglio editrice: Pollenza – Macerata 1973 (Italienisch)

Umwelt. Eine kritische Stellungnahme. Friedensreich Hundertwasser – HA Schult. hrg. von JUNIOR Galerie: Goslar/Deutschland (Italienisch, Deutsch)

Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München 1975. Gruener Janura AG: Glarus/Schweiz 1975, S. 369-370

Österreicher, die der Welt gehören. hrsg. von Mobil Oil Austria AG, Wien. Brüder Rosenbaum Verlag: Wien 1979, S. 94

Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Französische Ausgabe: Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976; Montreal, Brüssel, 1978. Englische Ausgabe: Tel Aviv, Tokio, 1976; Cape Town, Pretoria, Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia, Caracas, 1977; Mexiko City, Toronto, 1978; Rom, Høvikodden, 1980; Helsinki, 1981; London, 1983. Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981.

Das Hundertwasser Haus. Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag: Wien 1985, S. 116

Rand, Harry: Friedensreich Hundertwasser. Taschen: Köln 1991, S. 171, gekürzte Ausgabe 1993 und Ausgabe 2003, S. 149

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Taschen: Köln 1996, S. 80-82 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 62-64

Eichheim, Hubert; Bovermann, Monika; Tesarová, Lea et al.: Blaue Blume. Deutsch als Fremdsprache. Kursbuch – Englische Ausgabe. Max Hueber Verlag: Ismaning/Deutschland 2002, S. 328 (Auszug)