DER UNEBENE BODEN

Friedensreich Hundertwasser

Ein belebter, unebener Fußboden im öffentlichen Bereich bedeutet eine Wiedergewinnung der Menschenwürde, die dem Menschen im nivellierenden Städtebau entzogen wurde. Ein entscheidendes Erlebnis wurde ihm gestohlen.

Österreich war immer Vorkämpfer neuer Ideen im Wohnbau. Warum sollen nur Reiche und Privilegierte als Erste in den Genuss von entscheidenden Verbesserungen im Wohlbefinden des Wohnens kommen? Warum sollte man diese Errungenschaften später von auswärts übernehmen?

Die Menschen haben nicht nur Augen,
um sich an Schönem zu erfreuen,
und Öhren, um Schönes zu hören,
und Nasen, um Schönes zu riechen.
Der Mensch hat auch einen Tastsinn für Hände und Füße.

Wenn der moderne Mensch gezwungen wird, auf asphaltierten, betonierten GERADEN Flächen zu gehen, so wie sie in den Designerbüros mit dem Lineal gedankenlos konzipiert werden, entfremdet von seiner seit Menschengedenken natürlichen Erdbeziehung und Erdberührung, so stumpft ein entscheidender Bestandteil des Menschen ab, mit katastrophalen Folgeerscheinungen für die Psyche, das seelische Gleichgewicht, das Wohlbefinden und die Gesundheit des Menschen.


Der Mensch verlernt zu erleben und wird seelisch krank. So wird der ebene Fußboden zur wahren Gefahr für den Menschen.


Gerade im sozialen Wohnbau muss die Wiedergewinnung der Menschenwürde in einer sterilen Umgebung, insbesondere in üblicherweise kahlen, glatten, anonymen Gängen, oberstes Gebot sein.

Es ist selbstverständlich, dass die Neigungen der langgestreckten Unebenheiten die Sicherheit nicht gefährden, nicht 10 % Gefälle übersteigen und die Überkanten der Fliesen nicht 1 mm übersteigen dürfen. Auf jeder Wiener Straße sind z.T. unregelmäßige Gefälle von über 10 % in der Straßenquerlinie beim Kanalniveau und Überkanten im Asphalt von über 100 mm üblich. Auf der Wiener Kärntner Straße z.B. gibt es Niveauunterschiede von etwa 15 bis 20 cm und viele Überkanten der Granitplatten bis zu 10 mm. Tausende Passanten begehen diese unebene Unterlage täglich, ohne dass es zu Unfällen gekommen wäre.



Im Olympiagelände München und im El-Dorado bei der Shopping-City-Süd in Wien werden noch größere GEWOLLTE Unebenheiten mit Freude begangen ohne die geringste Behinderung.

Für einen rationellen, sachgerechten Ablauf des Arbeitsvorganges ist es entscheidend, dass der Estrich, d.h. die Unterlage, bereits in unebener Form vorgegeben wird. Der Fliesenleger braucht dann nur die Fliesen in die Klebemasse einkleben und etwaige Überkanten ausgleichen.

Als wahre GEFAHR für den Menschen wird jedoch der geradlinige, ebene Fußboden erkannt.



Durch den vollkommen ebenen, glatten Fußboden werden die Menschen erst zu Gehbehinderten „erzogen“. 
Gerade dem Sehbehinderten, dem bereits sein Augenlicht fehlt, darf man nicht zusätzlich auch den Tastsinn der Füße wegnehmen. Denn mit den Unebenheiten im Fußboden ist er vertraut und kann sich besser orientieren.

Durch falsch verstandenes Sicherheitsdenken will man also allen Staatsbürgern eine abnormale, sterile, künstliche „Gehbehinderten-Umwelt“ aufzwingen, so wie man sie sich theoretisch vorstellt. Der Gehbehinderte möchte jedoch auch in einer natürlichen Umwelt leben.


Daher wird in wenigen Jahren der unebene Boden sowieso zur Norm erhoben werden müssen, aus gesundheitlichen, psychotherapeutischen, orthopädischen, städtebaulichen und sozialen Gründen.

Denn der unebene Boden ist Bestandteil des menschengerechten Wohnens.

Die Gänge in den Wohnhäusern waren bisher nur eine rationelle Verbindung zwischen zwei Punkten: Stiege - Wohntür oder Lift - Wohntür etc.


Man schaute, dass man durch diese unwirtliche, erdrückende Strecke möglichst rasch durchkam. Der Durchgang ist aber nicht nur zum Durchgehen da. Der Gang kann und soll im Gehen Menschlichkeit, Wärme, Schönheit, Vertrautheit und „nichtreglementierte Unregelmäßigkeiten“ vermitteln für alle Sinne, auch für den Tastsinn der Füße.

So erhält der Durchgang als Wandelgang eine zusätzliche Funktion.


Er wird bewusst begangen und mit Freude benützt. Man wird gerne auf dem unebenen Gang auf und ab gehen, um sich zu erholen und um das menschliche Gleichgewicht wiederfinden zu können.


Der Gang wird zum schönen Weg.

Der unebene Wandelgang wird zur Symphonie, ist Melodie für die Füße.
Der Wandelgang bringt einen ganzen Menschen in Schwingung. 
Architektur soll den Menschen erheben und nicht erniedrigen.

Ich bin überzeugt, dass dieses Modell des unebenen Fußbodens als ganz wesentlicher Beitrag zum sozialen Wohnbau und zu Ehren Wiens von aller Welt von Experten, von Wissenschaftlern und Urbanisten und Architekten studiert und imitiert werden wird.

 

Verfasst in Wien, 12. März 1985.

Publiziert in:

Das Hundertwasser Haus, Wien: Österreichischer Bundesverlag und Compress Verlag, 1985, S. 244f.

Hundertwasser Architektur - Für ein natur- und menschengerechteres Bauen, Köln: Taschen 1996, S. 282 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 204

Hundertwasser - KunstHausWien, Köln: Taschen, 1999, S. 28 (gekürzte Version vom April 1991)

Hundertwasser. Parkstone Press International: New York 2008, S. 162-163