ÜBER DAS DURCH DIE GERADE LINIE ZERSTÖRTE PARADIES

Friedensreich Hundertwasser

Ein Ökologe ohne schöpferisches Bewußtsein ist zum Scheitern verurteilt, genauso ein Künstler, der sich nicht den Gesetzen der Natur beugt.

Die Welt hat sich nicht gebessert. Die vorausgeahnten Gefahren sind Wirklichkeit geworden. Indes werden, obwohl man noch nichts unternommen hat, meine weit zurückreichenden Warnungen heute endlich ernst genommnen. Aber es gibt noch immer keinen Rasen auf den Dächern, keine Baummieter, keine Wasserreinigungsanlagen durch Pflanzen, keine Humusklosetts, kein Fensterrecht, keine Baumpflicht. Die lebenswichtige Aufforstung der Stadt hat nicht stattgefunden.

Was uns fehlt, ist ein Friedenspakt mit der Natur. Wir müssen der Natur die Territorien zurückgeben, die wir uns widerrechtlich angeeignet haben. Alles, was waagrecht ist, gehört der Natur. Alles, was von den Strahlen der Sonne berührt wird, alles worauf der Regen fällt, ist geheiligtes und unverletzliches Eigentum der Natur. Wir, die Menschen, sind nur Gäste der Natur.

1952 habe ich von der Zivilisation des Bluffs gesprochen, von der wir uns befreien müssen, und ich als allererster. Ich habe von marschierenden grauen Menschenkolonnen gesprochen, die zur Nicht-Kreativität und zur Selbstzerstörung führen. Im selben Jahr habe ich die Bezeichnung »Transautomatismus« gebraucht, um den Weg aufzuzeigen, der über eine rationalistische Technokratie hinaus, hin zu einer neuen Schöpfung im Einklang mit der Natur führen könnte.

1953 erkannte ich, daß die gerade Linie zum Untergang der Menschheit führt. Aber die gerade Linie ist zur absoluten Tyrannei geworden. Die gerade Linie ist etwas, was man niederträchtig mit Hilfe eines Lineals zieht, ohne nachzudenken und ohne zu fühlen, eine Linie, die in der Natur nicht existiert. Und diese Linie ist das verrottete Fundament unserer dem Untergang geweihten Zivilisation. Selbst wenn man an einigen spärlichen Plätzen erkannt hat, daß die gerade Linie zu einem schnellen Ende geführt hat, hat man ihre Programmierung fortgesetzt. Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch. Die gerade Linie ist die einzige unschöpferische Linie, die einzige Linie, die dem Menschen, der nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, fremd ist. Die gerade Linie ist die verbotene Frucht. Die gerade Linie ist der Fluch unserer Zivilisation. Jede Konstruktion mit ihrer Hilfe ist totgeboren.

Heute erleben wir den Triumph der rationalen Technik, und währenddessen befinden wir uns gleichzeitig vor dem Nichts. Ästhetische Leere, öde Gleichförmigkeit, kriminelle Sterilität, schöpferische Impotenz. Selbst die Kreativität ist vorfabriziert. Wir sind unfruchtbar geworden. Wir können nichts mehr hervorbringen. Das ist unser eigentliches Analphabetentum.

Ich bin ein König. Ich habe mir selbst eine Krone aufgesetzt. Ich bin reich. Der Reichtum läuft mir nach. Es ist traurig, daß nicht ein jeder und alle ein reicher König sind. Man braucht sich nur selbst zu krönen und den Reichtum ringsumher wahrzunehmen. Aber um das zu tun, sind wir zu feige. Ich würde es vorziehen, in einem Tal mit reichen Königen zu leben als in einem Jammertal. So bräuchte ich nicht selbst ein König zu sein. Da ein jeder von Natur aus und ganz einfach schöpferisch ist, wird der Ort, an dem man sich befindet, zum Paradies, zum Königreich. Es ist also gar nicht nötig, lange zu laufen, um das künftige Paradies, das künftige Königreich zu erlangen, denn das Paradies, das ist nebenan beim Nachbarn.

 

Geschrieben 1985 unter Verwendung der Staatspreisrede.

Publiziert in:

Mathey, J. F.: Hundertwasser, München: Südwest Verlag 1985; Bindlach: Gondrom Verlag 1992 (Lizenzausgabe)