DIE LINIE VON HAMBURG

Friedensreich Hundertwasser

In Hamburg kannte ich Poppe, einen wahren Freund und großen Kunstsammler. Er stellte mich Mitte 1959 Herrn von Oppen, dem Rektor der Hamburger Kunsthochschule am Lerchenfeld, vor. Er war ein sehr gerader Germane, der aussah, als ob er einen Besenstiel verschluckt hätte. Er lud mich ein als Gastdozent und sicherte mir die Freiheit der Lehre zu, solange sie sich auf die Malerei bezog.

Ich kam im Oktober an. Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich das Zimmer des Rektors betrat und dieser sagte: »Ihre Klasse ist in Raum 14. Ich hab jetzt keine Zeit. Gehen Sie bitte selber und stellen sich Ihrer Klasse vor.« Ich klopfte an die Tür des Klassenzimmers. Es waren ungefähr vierzehn Studenten versammelt, und ich hielt eine kleine Rede. Ich sagte: »Hören Sie, es ist wahrscheinlich besser, wenn Sie nach Hause gehen. Denn wenn Sie Talent haben und hierher kommen, um etwas zu lernen, dann werden Sie es verlieren. Und wenn Sie kein Talent besitzen, dann ist es noch schlimmer, weil Sie dann Dinge lernen werden, die gar nicht zu Ihnen passen, und Ihr Leben wird ruiniert werden. Der einzige Weg, Künstler zu werden, führt über Ihre eigene Kreativität, und dabei müssen Sie mit sich selber beschäftigt sein und sich nicht auf einer Schule aufhalten. So, gehen Sie bitte nach Hause. Außerdem kann ich Ihnen gar nichts lehren, denn ich bin hier, um zu malen, und es ist untersagt, mich nachzuahmen. In beiden Fällen, ob Sie nun Talent besitzen oder nicht, sollen Sie diese Schule verlassen, um auf dem Gebiete der Kunst etwas zu erreichen.«

Die Studenten schauten mich an, und keiner verließ den Raum. So begann ich also meine Lehrtätigkeit mit reinem Gewissen. Ich ließ alle vorhandenen Stellwände der Hochschule in meiner Klasse aufstellen und unterteilte den Raum in vierzehn kleine Zellen. Die Hausmeister waren sehr dagegen. Die Schulregeln besagten, daß die Studenten spätestens abends um acht Uhr die Schule verlassen und nach acht Uhr morgens wiederkommen können. Das Hauspersonal hatte sich zu versichern, daß keine Personen über Nacht in der Schule blieben, und hatte nun zusätzliche Arbeit, in allen vierzehn Kojen und Zellen nachzusehen, ob sich nicht jemand versteckte.

Ich ließ die Studenten in ihren Zellen tun, was sie wollten. Ich verbot ihnen, mich zu kopieren oder irgend jemand anderen. Die Dinge, die sie taten, waren seltsam. Ein Mädchen zum Beispiel kam jeden Morgen mit einem getrockneten Blatt und derselben Walnuß. Sie arrangierte sie auf einem Tuch und zeichnete sie ab. Ein junger Mann kam jeden Morgen mit einem Rucksack voller Glasscherben. Mit einem durchsichtigen Kleber klebte er die Scherben zusammen. Eines Tages fragte er mich, ob er auch zu Hause arbeiten könne, er habe nämlich eine zwanzig Kilometer lange Fahrt von zu Hause, und der Rucksack sei sehr schwer, und die Glasscherbenkanten reißen ihn auf. »Natürlich, gehen Sie nach Hause!« sagte ich ihm, und er schaute mich sehr erstaunt an. Er war nicht bei meiner Antrittsvorlesung anwesend gewesen.

Ein anderer Student kam jeden Morgen pünktlich um neun Uhr, war sehr gut gekleidet, mit dunklem Sakko, Hosen mit perfekten Bügelfalten, gewichsten Schuhen, blankem Hemd mit Krawatte. Er hatte zwei Koffer. In dem einen hatte er seine Farben säuberlich geordnet. Er hatte keine Pinsel, Malmittel, Paletten. In dem anderen hatte er drei präparierte Leinwände und eine zusammenlegbare Staffelei. Er stellte die Staffelei auf, eine Leinwand drauf, nahm eine Tube Farbe und drückte sie auf der Leinwand aus, so lange, bis keine Farbe mehr drin war. Danach nahm er die zweite Tube, dann die dritte und so weiter. Wenn er alle Farben verbraucht hatte – er benutzte etwa zehn große Tuben Farben auf drei Leinwänden – packte er alle seine Sachen, klappte seine Staffelei zusammen, legte sie mit den Bildern mit den ausgedrückten Farben in den Koffer mit allen seinen Sachen und ging gegen Mittag fort, ohne etwas zurückzulassen. Auch die ausgedrückten Tuben nahm er mit. Er beschmutzte sich nie. Er malte in der Art Pollocks oder Mathieus. Im Verlauf der Tage wurde er immer schneller fertig mit dem Ausdrücken der Farbtuben und konnte dann schon gegen elf Uhr die Klasse wieder verlassen, dann gegen zehn, ja nach einem Monat etwa hatte er schon um 9 Uhr 30 seine Farben und Leinwände verbraucht. Endlich sprach ich mit ihm auf italienisch. Er war der Sohn des italienischen Botschafters.

Da gab es auch ein Mädchen, das zeichnete stereotype Zeichen auf Stößen von kleinen, postkartengroßen Blättern. Sie zeichnete diagonale Linien auf das Papier, eins nach dem anderen, und wenn sie damit fertig war, radierte sie die Linien wieder aus. Oder sie kreuzte die etwa hundert kleinen Linien auf dem Blatt, eine nach der anderen, so daß hundert Kreuze entstanden, und radierte sie nachher aus. Dies tat sie den ganzen Tag. Ich beobachtete sie dabei. Als ich sie dann fragte: »Fräulein, was tun Sie?«, antwortete sie mir: »Ich bin hier, um Geld zu verdienen.« Ich bemerkte, daß sie Geld verdienen könne, wenn sie Textildesign entwerfen würde, aber sie meinte, dann müsse sie ja arbeiten, während sie sowieso Geld von der Kunsthochschule bekäme, indem sie studiere. Dann gab sie mir auch Papiere zum Unterschreiben, so daß sie ihr Geld für das Zeichenmaterial ersetzt bekäme. Ich glaube, man nennt das Studienbeihilfe. Ich unterschrieb all ihre Papiere, und sie war sehr zufrieden.

Dann war da noch ein junger Mann, der unglücklich darüber war, daß er nicht nach der Natur, keine Akte oder Porträts in unserer Klasse zeichnen konnte. So entwarf er Ansichten des Klassenraums mit all den vierzehn Unterteilungen. Später verließ er dann die Klasse und zeichnete Tiere im Zoo ab. Ein Mädchen strickte in ihrer Zelle Pullover für ihre Eltern.

Ich selbst malte auf einem eigens errichteten Podium unter einem Baldachin, denn ich fühlte mich als König und besser als alle anderen. Ich warf all die männlichen und weiblichen Aktmodelle aus meiner Klasse hinaus. Sie beschwerten sich beim Rektor.

Ich begann mit dem Schimmel. Ich bat die Studenten, Schimmel mitzubringen, wo immer sie ihn finden konnten, sei es aus dem Keller oder von der Marmelade. Wir gaben ihn an die Wand, um zu beobachten, wie er wuchs zur Illustrierung meines »Verschimmelungsmanifestes gegen den Rationalismus in der Architektur«, das im Jahr zuvor erschienen war. Als man mich darauf aufmerksam machte, daß das Leitungswasser stark chlorhaltig sei, weswegen die Schimmel eingehen, beauftragte ich die Studenten, Süßwasser aus der nahen Elbe zu holen, um den Schimmel feucht zu halten. Das meiste Wasser wurde allerdings auf den Fluren und Treppen verschüttet, so daß das Stiegenhaus immer naß war.

Eines Tages kam ein junger Mann zu mir und wollte mein Schüler werden. Als ich ihn fragte, warum, sagte er, er habe gehört, daß es einen freien Platz gäbe. Ich fragte ihn, was er werden wolle, und er antwortete »Kunsterzieher«. Da sagte ich ihm: »An Ihrer Stelle würde ich eine Kerze nehmen und sterben gehen.« In einer Ecke des Raumes hing das »Pintorarium-Manifest«, und ich sagte ihm, er solle es lesen, und falls es ihm zusage, könne er mein Schüler werden. Er stand davor und rührte sich für eine ganze Stunde nicht. Er beschwerte sich dann bei seinen Eltern und beim Rektor.

Ich hatte das »Pintorarium« in die Eingangshalle ans schwarze Brett geheftet. Jeden Abend verschwand es, und ich heftete es immer wieder neu an. Ich klebte das Manifest sogar auf eine Platte und befestigte diese dann an die Wand. Ich gebrauchte dazu starke Nägel und Zementhaken, auch schwere Ketten, die ich in die Mauer mit Zement einließ, und schwere Schlösser. Jeden Morgen arbeitete ich daran mit einem schweren Hammer. Die Hammerschläge dröhnten durch die gesamte Kunsthochschule. Die Wand war schon ganz durchlöchert. Derjenige, der es immer wieder abnahm, war ein Feigling, denn er sagte mir nie direkt, daß er mein Manifest nicht mochte. Eines Morgens flüsterte mir mein Kollege Schumacher zu: »Man spricht schlecht über Sie.«

Eines Tages kamen zwei Poeten an die Akademie, Herbert Schuldt und Bazon Brock. Sie zeigten sich sehr enttäuscht darüber, daß »der große Hundertwasser hier als normaler Professor tätig war«. Sie dachten, dies sei beschämend. »Wir sollten eine Linie ziehen, eine große Linie, die die Wände umkreist, die niemals aufhört, weder Tag noch Nacht, so wie die olympischen Läufer oder wie die Ralleyfahrer.« Ich stimmte dem zu und wir begannen mit den Vorbereitungen.

Pierre Restany: »Die Idee stammt also von Bazon Brock?« – »Ja, aber er hatte diese Idee, da er mit meinem Universum vertraut war. Sonst hätte er diese Idee nicht gehabt. Er ist sehr intelligent. Es ist so, wie wenn der Fuchs dem Vogel vorschlägt, er solle fliegen. Von wem stammt dann die Idee?«

Dann ereignete sich ein seltsamer Zufall: Eines Tages kam ein junger Mann mit einem Metermaß in den Raum und maß ihn aus für die Karnevalsveranstaltung, die jedes Jahr in der Akademie stattfand. Meine Klasse wäre für die Bar des Faschingsfestes ausersehen. Ich dachte an die Linienziehung, die eine wichtige Manifestation bedeuten sollte, und wollte nicht, daß sie mit einer Karnevalsveranstaltung verwechselt würde. Ich verbat daher jede Art von Beteiligung an einem Faschingsfest in meinem Klassenraum. Da erschienen hintereinander Studienvertreter, der Kanzler, andere Kollegen und schließlich auch der Stellvertreter des Rektors, welcher sich außer Stadt aufhielt, und versuchten, mich zu überreden und umzustimmen. Der Stellvertreter des Rektors nahm mich im Korridor beim Arm, wir machten ein paar Schritte, und er sagte: »Sicherlich wollen auch Sie nicht, daß der Kunsthochschule durch Sie 10 000 Mark verlorengehen.« Ich schlug vor, der Schule mein Gehalt, das sich auf genau 10 000 Mark im Jahr belief, zu überlassen, doch er war damit nicht einverstanden. Ich erklärte ihm dann, daß mir die Freiheit der Lehre zugesichert worden war und daß Karnevalsveranstaltungen gegen meine Prinzipien verstießen. Karneval war nicht Teil meines Lehrprogrammes und auch nicht Teil meiner Vereinbarungen mit der Kunsthochschule. In einer Kunsthochschule soll Kunst gemacht und nicht Fasching betrieben werden. Wahrscheinlich hat gerade diese Absage die Fronten entscheidend verhärtet.

Ich begab mich zu einem der bekanntesten Astrologen in Hamburg, Herrn Wulff, auf daß meine Linienaktion erfolgreich verlaufe. Er war der Astrologe, der für Hitler und Himmler tätig war, und er ist derjenige, der entdeckte, wo die Alliierten den Mussolini in den Abruzzen versteckten. Mussolini wurde dann von Skorzeny entführt. Nachdem Wulff das Ende des Dritten Reiches vorausgesagt hatte, wurde Hitler wütend. Er fiel, wie andere Astrologen, in Ungnade und wurde verhaftet und in ein Konzentrationslager gesteckt. Von dort »borgte« sich Himmler den Wulff öfters aus, ließ ihn mit einer Staatslimousine für ein oder zwei Stunden für astrologische Ratschläge holen und schickte ihn dann ins Lager zurück.

Wulff riet mir, die Linienaktion genau um 15 Uhr 11, Freitag, den 18. Dezember, zu beginnen. Ein anderer Astrologe berechnete mir Jahre später einen anderen Zeitpunkt als den, der bessere und wirksamere Resultate gebracht hätte. Tant pis.

Wir verschickten etwa tausend Einladungen zur Linien-Aktion. Der Rektor wurde nicht informiert und auch nicht die Kollegen. Erst als die Aktion begann, wurden den Professoren der Hochschule die Manifeste in ihre Postfächer gesteckt. Zu dem Zeitpunkt, als die Aktion begann, hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt, aus Hamburg und von anderswo, ebenso eine Menge Studenten. Der Raum war voller Menschen, so daß mich kaum einer sehen konnte.

Wulff hatte mich nicht nur über den genauen Zeitpunkt, sondern auch über den genauen Ortspunkt informiert, wo ich die Aktion beginnen sollte. So peilte ich von der Mitte des Raumes die angegebene Himmelsrichtung mit Hilfe der Gradeinteilung eines Kompasses an. Und das war der Punkt an der Wand, wo ich die Spirallinie zu ziehen begann.

Ich wollte eine Spirallinie ziehen, die horizontal die Wände emporkletterte, so wie die Sedimentschichten im Felsengestein.

Zum angegebenen Zeitpunkt begann ich eine Linie rund um den Raum gegen den Uhrzeigersinn, etwa einen Zentimeter vom Fußboden entfernt, zu ziehen. Als ich wieder an diesem Punkt angelangt war, fuhr ich etwa einen Zentimeter höher, unregelmäßig parallel zur bereits gezogenen Linie, fort zu zeichnen, und so wuchs die Spirale. Ich ging dabei über alle Hindernisse hinweg, über Türen, Fenster, Heizkörper und anderes. Teilweise wurden Hindernisse ausgespart und umgangen. Ich hatte alle Möbel von den Wänden entfernt, um freie Bahn zu haben. So zog ich meine Linie auf Händen und Füßen, zwischen den Beinen der Zuschauer herumkriechend, und nur sehr wenige konnten mir zuschauen bei dieser Tätigkeit. Die Leute hatten wohl eine Manifestation üblichen Stils von oben her erwartet, mit Reden von einem Podium und so weiter, nicht aber von unten her, zwischen ihren Füßen. Sie erwarteten wahrscheinlich eine Show, eine Explosion, nicht aber eine stille Evolution. Und so verließen sie den Raum nach einer Stunde, weil in ihren Augen nichts geschah. Es war seltsam: Sie befanden sich inmitten einer Manifestation, die sie sogar umgab und einspann, und keiner bemerkte sie.

Die Linie zog ich zuerst schwarz, später rot, zuerst mit dunklen Stiften, dann mit Farbe und Pinsel. Als ich müde wurde, übergab ich den Pinsel an Bazon Brock, der meinen Platz einnahm, wie beim Stafettenlauf. Ich begab mich hinunter in die Halle, um mich zu entspannen, und sah dort eine groteske Situation: Hier waren all die Leute, die eine Einladung erhalten hatten und die herauf wollten. Die Hundertwasser-Klasse befand sich im Obergeschoß. Sie wurden jedoch von fünf Hausmeistern daran gehindert. Diese boxten in perfekter Kampfformation die hinaufwogende Flut der Menge die breite Stiege hinunter, ganz so, wie in dem berühmten Film von Eisenstein. Einige Personen bluteten. Es artete in einen richtigen Kampf aus. Auf Anordnung des stellvertretenden Rektors wurden alle Leute aus dem Haus geboxt, unter ihnen auch ein hoher Richter, der Vergeltung forderte. Ein Plakat wurde in aller Eile auf einem Ständer angebracht mit der Mitteilung: »Das Experiment Hundertwasser findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.«

Doch die Presse war anwesend und die Affäre kam an die Öffentlichkeit. Der Rektor der Hochschule, der sich in Rom befand, erfuhr aus den Zeitungen, was sich abspielte, und nahm das nächste Flugzeug nach Hamburg. Inzwischen zog ich die Linie weiter. Die Linie passierte die Innenseite der Tür. Jedesmal, wenn die Linie über die Innenseite der Eingangstür gezogen wurde, wurde sie verschlossen. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, um einen Spiralkreis rund um den Raum, und etwa eine Minute, um die Teilstrecke über der verschlossenen Tür zu ziehen. Außer diesen kurzen Minuten war die Tür immer offen. Just zu dem Zeitpunkt, als die Linie wieder über die Tür lief, begehrte der stellvertretende Rektor von außen sofortigen Einlaß. Ich antwortete von innen: »Warten Sie eine Minute, ich kann jetzt nicht öffnen, das Gesetz der Linie verbietet es. Warten Sie eine Minute, bis die Linie die Türe verlassen hat.« Er war wütend, warf sich gegen die Tür und wollte sie einbrechen. Er verstand nichts. Ich zog die Linie ruhig weiter, und als sie die Tür passiert hatte, öffnete ich.

Wir hatten eine große Diskussion. Er verbat den Studenten, mit der Linie während der Nachtstunden fortzufahren, da sich nach den Schulvorschriften Studenten nicht in der Hochschule zwischen acht Uhr abends und acht Uhr morgens aufhalten durften. So blieben nur mehr Schult, Brock und ich, die die Linie weiterzogen. Meine Studenten desertierten und flohen wie erschrockene Hasen. Sie verleugneten mich zudem, wie ich später erfuhr. Sie hatten Angst. Als sie gefragt wurden, verneinten sie, meine Schüler zu sein.

Es war wie auf dem Ölberg. So war ich allein mit den zwei Poeten. Während der Nacht drehte man uns den Strom ab. Ich ging und besorgte Kerzen aus einer Nachtbar. Wir wechselten einander ab. Einer zog die Linie, einer schlief auf einem Sofa und der dritte machte Besorgungen, holte Essen und Trinken und Kerzen und sprach mit der Presse. Wir arbeiteten bis zum Morgengrauen. Es war wie auf einem Schiff auf hoher, schwerer See. Jeder hielt abwechselnd Wache. Die Linie war rot und wuchs an wie das Rote Meer, das rote Spiralmeer. Und dann kam der zweite Tag. Die Zeitungen berichteten ausführlich. Der Skandal war perfekt.

Ich erinnere mich an einen Zwischenfall, der mich sehr beschäftigte. Nachts, gegen zwei Uhr morgens, nachdem ich die Linie den Poeten übergab, ging ich durch das Gebäude, um mir die Beine zu vertreten. Da hörte ich Lärm, Musik und Gesang aus einem Raum. Ich ging näher und sah betrunkene Studenten, Jungen und Mädchen. Sie rauchten Haschisch, liebten sich und machten lauter Unsinn. Da dachte ich mir: Sie verbieten den Studenten, nachts an einer ernsten wichtigen Handlung teilzunehmen, aber eine stupide Orgie ist zur gleichen Nachtzeit erlaubt. Da war ich sicher, daß meine Aktion eine gerechte war.

Pierre Restany: »Wie lange dauerte die Aktion?« Drei Tage und zwei Nächte. Der Rektor kam aus dem Ausland an und beorderte mich sofort in sein Büro. Er verbat, das »Experiment« weiterzuführen. Ich war sehr erstaunt, hatte er mir doch die volle Freiheit meiner Lehrmethoden zugesagt. Aber ihm zufolge hatte ich den schweren Fehler begangen, ihn davon nicht vorher zu informieren, dann hätte er mir wahrscheinlich die Erlaubnis dazu erteilt. Doch hatte ich ihn ja gerade deshalb nicht informiert, um die Freiheit für die Aktion zu gewährleisten.

Ich sagte ihm auch, er solle doch kommen und sich die Linie, die große Spirale, anschauen: »Es ist wunderbar. Man fühlt sich wie in einer Kathedrale, wie in der Kirche einer neuen Religion. Im Zentrum der Linie, die einen umgibt, ist man überwältigt, wie von einem mächtigen und wahren Glauben erfüllt.« Aber er wollte nicht zuhören, und er wollte die Linie, die Spirale, nicht sehen.

Die zwei Poeten fürchteten sich vor der Polizei und wollten nicht eingesperrt werden. Und ich war zu müde, um alleine fortzufahren. So brach ich die Linie Sonntag, gegen 15 Uhr 40 ab. Sie hatte inzwischen eine Höhe von 2 Metern 50 erreicht. Wir mußten schon auf einer Stehleiter auf Rädern arbeiten, die mein Freund Poppe zur Verfügung gestellt hatte, der auch Malermeister war.

Ich schrieb einen Brief an den Kultursenator. Dieser antwortete mir, daß ich, falls ich den Dienst quittieren wollte, die Verantwortung selber tragen solle und sie nicht ihm überlassen möge. Ich legte die Gastdozentur nieder und verließ Hamburg. Die Linie wurde tags darauf mit Rasierklingen abgeschabt. Die Presse, dumm wie immer, begriff nicht die Bedeutung des »Experiments«, erkannte keinerlei Sinn in meiner Aktion. Für sie war es nur ein anderer Skandal.

Pierre Restany: »In Kürze: in welcher Weise war Ihre Linie ein Protest gegen die gerade Linie?«

Ich betrachtete diese Aktion als eine Evolution. Anläßlich einer Ausstellung bei Kamer in Paris, 1957, schrieb ich folgendes: Die langsame Evolution der Vegetation ist besser als eine rasche Explosion. Und ich verglich eine Atombombenexplosion mit den Pilzen, welche langsamer wachsen und die sich besser dem Vorhandenen anpassen. Dieses schafft eine Superstruktur, die sich über die Dinge zieht, ohne sie zu ruinieren oder zu zerstören. Die organisch wachsende Spirale ist ein Gleichnis zum Leben und zum Tod in ewiger Wiederkehr. Mit der geraden Linie kann man nicht die Kathedralen des wahren Glaubens bauen, die Kathedralen der Schöpfung, denn die gerade Linie ist gottlos.

Mein »Experiment« sollte eigentlich an einem Punkt irgendwo an der Decke enden. Die Linie wäre dann zu einer Spirale geworden, die von außen, von der Weite kommt und die scheinbar kleiner und kleiner wird und scheinbar in einer Mitte endet, ähnlich wie die Spitze einer Pyramide oder die Spitze eines Domes, eines Glaubens, die auch mit sonderlichen Energien geladen sind. In Wahrheit verdichtet sich jedoch die Spirallinie in diesem Zentrum, das Tod und Leben gleichzeitig bedeutet, und sammelt ungeheure Kräfte zu einer Wiedergeburt in einer anderen Ebene. Leider war es mir nicht erlaubt, diesen Punkt zu finden. Dort kam ich nicht an.

 

Geschrieben 1975/1983.

Publiziert in:

Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Französische Ausgabe:Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976. Englische Ausgabe: Tel Aviv, Reykjavik, 1976; Cape Town, Pretoria, Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia, Caracas, 1977; Mexiko City, Toronto, 1978; Rom, Høvikodden, 1980; Helsinki, 1981; London, 1983. Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981. (in englischer Sprache). Japanische / Englische Ausgabe: Tokyo, 1977.

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv): München 1983, S. 126-135* und Ausgabe 2004 (Langen Müller Verlag, München), S. 146-154 * 1983 von Hundertwasser für diese Ausgabe überarbeitet

Das Hundertwasser Haus. Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag: Wien 1985, S. 52-53 (Auszüge)

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Taschen: Köln 1996, S. 52-54 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 38-40 (Auszüge)

Rand, Harry: Friedensreich Hundertwasser. Taschen: Köln 1991, S. 95, gekürzte Ausgabe 1993 und Ausgabe 2003, S. 79 (Auszüge)

Hundertwasser. Parkstone Press International: New York 2008, S. 60-68

Hirsch, Andreas (Hg.): Hundertwasser – Die Kunst des grünen Weges, Ausstellungskatalog KunstHausWien. Prestel Verlag: München 2011, S. 76 (Auszug)