Die Möglichkeit einer zeitgenössischen Kunst

Hundertwasser

Ich finde es kindisch, in der Malerei ständig nach neuen Ausdrucksweisen zu suchen. Es ist eine Schwäche. Weil jede Art des Ausdrucks gut ist, solange sie aus innerer Notwendigkeit und aus dem Herzen kommt. Häufig ist die Suche nach einem neuen Stil nichts anderes als die Suche nach einer weniger anstrengenden Art zu malen. Wenn es keine innere Notwendigkeit des Ausdrucks gibt, sollte man es ganz lassen, weil es ja doch so wäre, als hätte man nichts getan.
Die zeitgenössische Kunst ist von Verwirrung gekennzeichnet, da über einen kurzen Zeitraum viele Stile ganz ohne Herz erfunden worden sind. All diese "Erfindungen" waren rein formell, ohne innere Notwendigkeit. Also haben alle es satt, wie nach einer blöden Party, bei der man ohne Überzeugung mitgemacht hat. Keines der Experimente - vor allem in der Nachkriegszeit - erfuhr längerfristig eine ernsthafte Würdigung, nicht einmal während der Zeit, in der es eine Modeerscheinung war. Aus diesen gemeinsamen Fehlern falscher Experimente sollten wir eine Lehre ziehen.
Jeder sollte seinen eigenen Weg finden. Gerade jetzt ist es an der Zeit, über alles nachzudenken. Jeder sollte für sich denken und furchtlos seine eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Man denke daran, dass alles, was in der Gemeinschaft mit anderen geschieht (wie dies mit allen Strömungen der Fall ist), niemals einen selbst oder die Gemeinschaft befriedigen wird. Man wird zu einem Affen, und ein Erfolg ist hundert Mal wahrscheinlicher, wenn man Dinge für sich selbst herausfindet und tut. Nur dann wird man zu einem Menschen.
Es ist interessant zu sehen, wie wir alle am Verfall der Weltreligionen mitbeteiligt sind. Ich bin überzeugt, dass die moderne Kunst sich mehr und mehr mit religiösen Problemen befasst, die der Religion mehr und mehr abhanden kommen. Dies wird passieren, auch wenn manche Künstler gar nicht an Gott glauben. Weil die Religion eher eine gesellschaftliche Institution war, deren Platz jetzt die Kunst einnimmt. Anders gesagt: Die Menschen werden mehr und mehr auf die Künstler hören und weniger auf die Priester. Der Einfluss der Künstler wird stärker wachsen als der der Wissenschaftler, die im Moment die wichtigste Rolle einnehmen. Die Kunst muss uns und wird uns glücklich machen, uns Trost im Schmerz spenden und uns aus unserem geistigen Elend herausführen.
Ach, Ihr armen verwirrten Hühner, Ihr armen kleinen Tiere, Ihr wisst nicht, wohin Ihr laufen sollt, und ich kann Euch nicht helfen. Eure Frage nach der "Möglichkeit der zeitgenössischen Kunst" ist so einfältig. Das Huhn rennt nach dem Futter, voller Angst, es könnte das letzte sein. Keine Bange, es ist nicht das letzte. Ich werde Euch immer welches geben. Aber warum produziert Ihr nicht Eure eigene Nahrung? Dann hättet Ihr immer etwas.

OH, IHR ARMEN VERWIRRTEN HÜHNER.
IHR ARMEN KLEINEN TIERE.
IHR WISST NICHT, WOHIN LAUFEN.
ICH KANN EUCH NICHT HELFEN.
EURE FRAGE NACH DER "MÖGLICHKEIT DER
ZEITGENÖSSISCHEN KUNST" IST SO EINFÄLTIG.
DAS HUHN RENNT NACH DEM FUTTER.
VOLLER ANGST, ES KÖNNTE DAS LETZTE SEIN.
KEINE BANGE, ES IST NICHT DAS LETZTE.
ICH WERDE EUCH IMMER WELCHES GEBEN.
ABER WARUM PRODUZIERT IHR NICHT EURE EIGENE NAHRUNG?
DANN HÄTTET IHR IMMER ETWAS.
NACH ALL DEN KUNSTRICHTUNGEN UND - EXPERIMENTEN
FÜHLT IHR EUCH KRANK,
GENAU WIE NACH EINER BLÖDEN PARTY,
AUF DER IHR OHNE ÜBERZEUGUNG WART,
ES IST WIE EINE NEUE ART VON SAKE ODER OPIUM,
DIE EUCH ERREGT UND
TRUNKEN MACHT,
ABER NUR SO LANGE DIE WIRKUNG DES
GIFTS ANHÄLT
DANACH FÜHLT IHR EUCH MIES UND VERLOREN.

 

Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 70