ZUM TRANSAUTOMATISMUS

Friedensreich Hundertwasser

Nur das Schöpferische als Pflicht jedes einzelnen kann unser neues Analphabetentum bekämpfen: die tragische Impotenz des zeitgenössischen Auges. Diese Impotenz ebenso wie die gestaltende Betrachtungsweise sind durch das „Individualkino“ meßbar geworden.

Das moderne "avantgardistische" Werk der allerletzten Gegenwart, das ich wohl am besten als "transautomatisch" bezeichne, stellt, obwohl es rein äußerlich den bisherigen Werken ähnelt, nicht mehr ein einzelnes "Bild" dar, sondern mehrere, gewissermaßen einen sehr komplexen, wunderbaren und noch zerbrechlichen Film. Diesem kann selbstverständlich nicht mehr die althergebrachte, sondern nur eine andere, eine neue Betrachtungsweise entsprechen.

Ausgehend von Unvermögen und der Unmöglichkeit, ein transautomatisches Bild oder ein transautomatisches Werk (ein tao = transautomatisches objekt) zu betiteln, das auf Grund einer äußerst schwierigen Arbeitsleistung entstanden ist, die komplexe, oft kontradiktorische Überlegungen über kontinuierliche Entwicklungen in sich birgt (die noch dazu großteils unterbewußt vor sich gehen), kommt man ganz von selbst auf den Doppeltitel; dann auf mehrere Titel des gleichen Werkes (des tao) und schließlich zum Wissen um die Notwendigkeit der beweglichen Betrachtungsweise, also zum individualen Gestaltungsfilm.

 

Das unbewegliche transautomatische Bildobjekt (tao) muß zu einem beweglichen Bild, das heißt zu einer Bilderfolge im Inneren des Beschauers, den Anstoß geben, sonst bleibt das tao unsichtbar. Dieses Individualkino bestand schon seit eh und je im Unterbewußtsein und ist zufolge der vertiefenden Intervention der neuen Pflichten und Rechte der modernen Kunst in den Aufgabenbereich des Bewußtseins und des Gewissens gerückt.

Ich habe versucht, einen solchen Individualfilm zu „projizieren“, das heißt niederzuschreiben. Es handelt sich da um einen sehr delikaten Versuch. Ein statisches tao löst im Inneren des „aktiven Beschauers“ eine kontinuierliche und aktive Folge von inneren Bildern aus, die sich dann im Laufe des inneren Abrollens in Bildenergien und schließlich in Energien und darüber hinaus in noch etwas anderem umsetzen. Dies ist der innere individuale Gestaltungsfilm. Dieser darf keineswegs mit einer Assoziationskette (à la Rorschach-Test etc.) verwechselt werden, wenn auch die Assoziationen beim Start dieses Filmes eine bedeutende Rolle spielen. Der Anteil der Assoziationen ist verschwindend klein, gemessen am ganzen Film, und wird hauptsächlich deshalb überschätzt, weil sie sich niederschreiben, „abbilden“ lassen, was auf ihnen fußt, jedoch nicht mehr oder noch nicht. Denn Assoziationen sind passive oder bestenfalls halbpassive Vergleiche. Der Aufnehmende (Betrachter, Zuhörer etc.) vergleicht ein ihm gegenübergestelltes Bild mit anderen bereits existierenden Bildern, seien sie bereits gesehene, gefühlte, erlebte oder in ihm bereits vegetierende oder in ihm bereits durch eigene Kraft aufgebaute Bilder. In jedem Falle ist es noch eins: confrontation avec le déjà vu. Diese Gegenüberstellung mit schon Gesehenem ist jedoch ungenügend bei der neuen Verhaltungsweise, die bei der Konfrontation mit einem tao erforderlich ist. Die Begriffe: Betrachter, Beschauer, Erschließung, Deutung, „das Bild auf sich einwirken lassen“, „dem Maler unvoreingenommen nachfühlen“, „die Aktion des Malens nachempfinden“ sind bezüglich der genannten Konfrontation nicht nur unzureichend und irreführend, sondern schädlich und gefährlich. Diese bekannten Schlagworte der allgemeingültigen „Kunstbetrachtung“ würden nur ungefähr den gleichen Zweck erfüllen wie ein Holzmesser, mit dem man einen Eisenbetonwall zu schneiden versucht, obwohl es zum Zerteilen von Butter und zum Bearbeiten von Lehmwänden bisher sehr gut gedient hat; und sie wären nicht weiter schädlich, wenn sich nicht dahinter unser gesamtes Erziehungssystem verbergen würde, das somit die Verantwortung für unser neues tatsächliches und furchtbares Analphabetentum trägt (im Vergleich zu dem das alphabetische Analphabetentum eine Bagatelle ist), weil es uns alle nicht nur in höchste Gefahr bringt, sondern uns bereits und eben jetzt in einen Abgrund gräßlichsten Ausmaßes stürzt.

 

Leider werden diese „Zuhörer der Malerei“ - und tragischerweise nicht nur der Malerei - auch heute noch in unseren Schulen und nicht nur im Kunstunterricht, in der Kunsterziehung und Kunstgeschichte, sondern auch auf allen anderen Gebieten herangebildet. Diese Erziehung genügt selbstverständlich nicht mehr den erhöhten Anforderungen der „Betrachtung“ von (besser: des Sich-Verhaltens gegenüber von) beispielsweise transautomatischen Werken. Dazu ist nur der aktive, der moralische, der verantwortungsbewußte, der gestaltende Betrachter befähigt, der sich grundsätzlich vom bisher normalen Betrachter unterscheidet und für den noch kein neuer Name geprägt worden ist, schon deshalb, weil er noch nicht als notwendig anerkannt worden ist. Denn für Klee, Dali, Mondrian, zu denen man bisweilen schon vorstößt, scheint auch noch die bis auf uns gekommene passive Betrachtungsweise zu genügen. Doch wie lange noch? Eine große Umwälzung, und nicht nur im Kunstunterricht, bereitet sich vor.

Ein individualer Gestaltungsfilm kann nur in einem „gestaltenden Betrachter“ in einer kurzen Zeitspanne - so unendlich sie auch sein mag - vielleicht nur in einem Augenblick entstehen (allerdings durch die Konfrontierung mit einem transautomatischen Objekt) und besitzt nur für ihn und für den gleichen Augenblick wirkliche Gültigkeit. Ferner muß dieselbe Person imstande sein, zu anderen Zeitpunkten, bei neuerlichen Konfrontierungen mit ebendemselben tao stets eine neue bewegliche, fortschreitende Vision, eine unendliche und kontinuierliche Folge von Bildern, ein „inneres Kino“ zu entwickeln. Selbstredend muß jede andere Person befähigt sein, bei Konfrontierungen mit stets ebendemselben tao unzählige, ich möchte fast sagen unendlich viele „unendliche Gestaltungsfilme“ in sich abrollen zu lassen.

 

Ein Beispiel einer transautomatischen Bildbetrachtung zu geben wäre also auf jeden Fall irreführend und schädlich; besonders für Personen, die gewohnt sind, Bild und Titel zu vergleichen, weil ihnen hiermit die Möglichkeit entwendet wird, eigene individuelle Gestaltungsfolgen nicht nur demselben tao gegenüber, sondern auch allen anderen später konfrontierten Objekten gegenüber in sich aufzubauen. Daraus kann eine nicht mehr wieder gutzumachende seelische Schädigung entstehen. Außerdem kann ein volles Beispiel eines unendlichen Gestaltungsfilmes niemals gegeben werden, sondern nur niederschreibbare Auszüge aus beginnenden Assoziationen, also eines kleinen Teiles des Startes. Ferner entsteht die innere Schädigung in viel größerem Maße noch durch die bereits gesehene Methode. Denn falls die totale Voraussetzung zum absolut eigenen Gestaltungsfilm (gemäß absolut eigener Methode) der betreffenden Person nicht gegeben ist, so ist das Resultat um vieles schrecklicher als wertlos. Ein einziges transautomatisches objekt (tao) muß dreimal zu unendlicher Potenz erhoben werden, um absolut sichtbar zu werden: Denn ein einziges tao besitzt unendlich viele Titel - eigentlich unendlich viele und kontinuierliche Diapositive, die den Gestaltungsfilm bilden - innerhalb unendlich vieler möglicher Gestaltungsfilme gemäß unendlich vieler  Methoden und Gesetze der visuellen Inbesitznahme ein und desselben taos.

Es liegt somit auf der Hand, daß die neue (transautomatische) gestaltende Bildbetrachtung von der bisher geläufigen und gelehrten Bildbetrachtung so verschieden ist wie Tag und Nacht. Während das Kunstwerk bisher in einem Zweck, in einem Ziel, in einem Titel, in einer Aufgabe kulminierte und der Beschauer sozusagen als unparteiischer, außenstehender Schiedsrichter zwischen Werk und Titel fungierte, so dient das Kunstwerk heute unendlich vielen Milliarden von Zwecken und hat unendlich viele Milliarden von Titeln, Aufgaben und Zielen. Der „Beschauer“ kann kein außenstehender Schiedsrichter mehr sein, weil der Titel zum Werk nicht mehr vorhanden ist, und ferner insbesondere weil er selbst, der Beschauer, gestaltend, schöpferisch geworden ist. Denn nur durch das schöpferische Sehvermögen des „Beschauers“ können innere Gestaltungsfilme entstehen, die nur für den jeweiligen „Betrachter“ Gültigkeit haben und die das Werk für den betreffenden „Beschauer“ erst relativ sichtbar machen. Daher ist auch der Zorn eines niederen Menschen (zum Beispiel Kommunist oder Hitlerist) leicht zu erklären, wenn er sich einem für ihn tatsächlich unsichtbarenKunstwerk gegenübergestellt sieht.

Die Bewegung des Inner-Inneren Auges bei Konfrontation mit einem tao kommt einer wahrhaftigen transautomatischen Maschinerie gleich. Man könnte sich am ehesten mit dem Start, dem Aufstieg und der Bahn einer Rakete vergleichen. Es gibt einen Start, ausgelöst durch am Boden verbleibende Sprengwirkstoffe, ein etappenweises Hinaufführen des Raketenkernstückes, wobei nach jeder Etappe ein hinauftreibender Komplex von Elementen nutzlos wird und abfällt, bis schließlich die Rakete nach Überwindung der Schwergewichtsdichten sich durch sich selbst fortbewegt ohne weitere Inanspruchnahme stützender Komponenten. Die Assoziationsgruppen spielen beim Ablauf der transautomatischen Bildbetrachtung ungefähr die Rolle der abschießenden und hinauftragenden Elementenkomplexe. Sie durchstoßen die verschiedenen Sphären des assoziativen Raumes, der erst assoziativ dicht überladen, dann immer lockerer, assoziationsärmer wird, ähnlich wie die Verhältnisse der Luft und Schwergewichtsdichten rund um den Erdball. Der Start geschieht durch die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt (gestaltender Betrachter - tao) und die Auflösung von Wechselbeziehungen, die sich in wunderbarer Weise staffeln und aufeinander fußen.

In der ersten Etappe der einfachsten Assoziationen wird das gegenübergestellte tao rein formal optisch mit bereits optisch gesehenen Objekten verglichen.

 


Schematische Darstellung zum Start eines Individualen Gestaltungsfilmes:

1.    Tatsächlicher formal optischer Vergleich zu dritt: Das Abbild, das Modell und der Vergleicher sind zugegen. (Es liegt nicht einmal noch eine Assoziation vor. Heute ist in großem Maße die Photographie an die Stelle des gemalten Abbildes getreten. Diese allerunterste Stufe ist bei der Konfrontation mit einem tao gar nicht mehr möglich, da das tao keine abbildenden Komponenten mehr in sich birgt, wie es beispielsweise für kubistische, dadaistische und abstrahierte Bildobjekte noch der Fall war.)

2.    Optische formale Vergleiche des tao mit Gebilden der bisherigen figurativen optischen Erfahrung - confrontation avec le déjà vu - (Es ist dies die erste und einfachste Assoziation: Man vermeint etwa ein Haus zu erkennen in einer Wolke.) Hier dient diesem Zwecke ebenfalls die Photographie besser und befriedigender als ein tao. Es ist dies die tiefste, jedem Menschen zugängliche Betrachtungsstufe und stellt quasi den Start für das Abrollen des inneren Filmes dar. Diese unterste Gegenüberstellung bedingt die ersten „Diapositivbilder“ des Filmes, der jedoch erst viel später zum Gestaltungsfilm wird. Tragischerweise wird diese primitive optische Gegenüberstellung von den breiten Massen bereits als umfassende Kunstbetrachtung angesehen und ist doch bloß die erste Stufe von den unendlich vielen Stufen einer Stiege.

3.   Optische formale Vergleiche des tao mit Gebilden der bisherigen nichtfigurativen optischen Erfahrung (seien es optisch tatsächlich gesehene oder bereits reproduzierte nichtfigurative Objekte). Es ist interessant darauf hinzuweisen, daß der sowjetische Realismus in den bisher angeführten drei beiderseitig optisch-formalen Vergleichen sein Genügen findet und daher tatsächlich als Formalismus bezeichnet werden kann. Dagegen können die anschließend aufgezeigten Assoziationen sich kaum mehr auf einen „Formalismus“ beziehen, da bereits alle formalen Elemente wegfallen.

4.   Optisch-formale Vergleiche des konfrontierten tao mit noch nicht optisch gesehenen, aber wahrscheinlich optisch existierenden oder möglichen figurativen Gebilden (wie man sich zum Beispiel ein einmal nackt gesehenes Mädchen bekleidet vorstellt oder das Haus der Tante in Berlin, das man noch nie „optisch-wirklich“ vor sich hatte, da man noch nicht dort gewesen war).

5.    Optisch formale Vergleiche des konfrontierten tao mit noch nicht optisch gesehenen, aber wahrscheinlich optisch existierenden oder möglichen nichtfigurativen Gebilden (wie man sich das, was zu groß oder zu klein für unsere unbewaffneten optischen Augen ist, vorstellt und was man aus diesem Grunde unbegreiflicherweise als nichtfigurativ bezeichnet, genauso wie wahrscheinlich eine Ameise eine Tannennadel als figurativ, einen Tannenbaum jedoch als nichtfigurativ empfindet. Mögliche Bilder aus dem Mikro- und Makrokosmos, mögliche Blickbilder aus einem Flugzeug, oder wie man sich Gebilde der abstrakten Kunst vorstellt).

6.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit außeroptischen Bildern der bisherigen figurativen geruchlichen, gehörlichen, tastlichen usw. Erfahrung des „Betrachters“ (die Unterscheidung von figurativen und nichtfigurativen außeroptischen Bildern der anderen Sinne kann gemacht werden und ist am deutlichsten bei den Hörbildern).

7.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit außeroptischen Bildern der bisherigen nichtfigurativen Erfahrung der übrigen Sinne.

8.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit noch nicht außeroptischen gehörten, gefühlten usw. figurativen Sinnesbildern, die jedoch wahrscheinlich existieren oder möglich sind.

9.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit noch nicht außeroptischen gehörten, gefühlten usw. nichtfigurativen Sinnesbildern, die jedoch wahrscheinlich existieren oder möglich sind.

10.   Optisch formale Vergleiche des konfrontierten tao mit optischen figurativen Gebilden, die jedoch nur im Inneren des „Betrachters“ selbst existieren, und zwar nur die, die ihm von Haus aus, das heißt von Geburt aus zu eigen sind, also optische Vergleiche mit inneren optischen Bildern des permanenten und figurativen Unterbewußtseins (aus diesem Reservoir schöpfen übrigens die figurativen Surrealisten, besonders Rousseau).

11.   Dasselbe nichtfigurativ: optisch formale Vergleiche des konfrontierten tao mit permanenten inneren Bildern des nichtfigurativen optischen Unterbewußtseins (auch diese Bilder lassen sich materialisieren - zum Beispiel gewisse Arbeiten von Klee, Miró, Kandinsky).

12.   Halboptische Vergleiche des Konfrontierten tao mit permanenten inneren Bildern des figurativen außeroptischen Unterbewußtseins des Gehör-, Geruchssinnes usw. (Jeder führt eine ihm eigene Melodie oder einen ihm eigenen Geruch mit sich herum).

13.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit permanenten inneren Bildern des nichtfigurativen außeroptischen Unterbewußtseins der nicht optischen Sinne.

14.   Vergleiche des tao mit den verschiedensten Kombinationen aus optischen und außeroptischen, figurativen und nichtfigurativen permanenten inneren Bildern des Unterbewußtseins.

15.   Optisch formale Vergleiche des konfrontierten tao mit vorübergehenden optischen inneren Bildern des figurativen Oberbewußtseins (also mit Bildern, die der „Betrachter“ in sich selbst durch eigene Gestaltung aufgebaut hat). Hauptbeschäftigung der bisherigen Kunst war es, diese zuerst im eigenen Inneren aufgebauten Bilder dann abzumalen. Immerhin war das keine Kopie mehr nach der Natur und auch keine Kopie aus dem Unterbewußtsein, das genausowenig etwas dafür kann, daß man es abzeichnet, sondern immerhin schon eine Kopie nach einer eigenen Gestaltung, doch bleibt es leider noch immer eine Kopie.

16.   Optisch formale Vergleiche des konfrontierten tao mit vorübergehenden optischen, inneren und nichtfigurativen Bildern des Oberbewußtseins, die der Beschauer in sich selbst aufgebaut hat.

17.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit vorübergehenden inneren, außeroptischen und figurativen Bildern des Oberbewußtseins (die in sich selbst aufgebauten Gebilde des Gehör-, Geruch- und Geschmacksinnes etc.)

18.   Halboptische Vergleiche des konfrontierten tao mit vorübergehenden, inneren, außeroptischen und nichtfigurativen Bildern des Oberbewußtseins.

19.   Vergleiche des konfrontierten tao mit den verschiedensten Kombinationen aus optischen und außeroptischen, figurativen und nichtfigurativen vorübergehenden inneren Bildern des Oberbewußtseins.

20.   Die Vergleiche mit Bildern des Ober- und Unterbewußtseins zerfallen ferner in drei Gruppen, und zwar in:

I.                    direkte Vergleiche (Gegenwart)

II.                 Erfahrungsvergleiche (Vergangenheit)

III.               Möglichkeitsvergleiche (Zukunft)

(Das würde die bisher angeführten Punkte verdreifachen und vielleicht zu weit führen, obwohl es äußerst wichtig wäre, sie noch anzureihen, da sie viele Ursprungsfragen der noch zeitgenössischen Kunst der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts aufklären und somit die genannten Kunstobjekte - allerdings nicht das tao - weitgehend sichtbar machen.)

Nach diesen leider nur teilweise angeführten optischen und außeroptischen Vergleichen des tao mit „den sieben Sinnen“, den Sinnesassoziationen, kommen die Wertgegenüberstellungen, die Wertvergleiche. Das heißt, das tao wird mit den eben aufgezählten 20 Bildeinheiten, die jedoch in Wahrheit mehr als 39 (78 mit den Bewegungsassoziationen) sind, nochmals verglichen, doch nicht in „optischer“ Hinsicht, sondern in Hinsicht des Wertes. Da es unzählige Werte gibt, ergeben sich schier unendlich viele Wertassoziationen. Das sind:

Religiöse Werte: hat das mir gegenüber befindliche tao denselben oder ähnlichen religiösen Wert wie dieses oder dieses oder dieses optische oder außeroptische figurative oder nichtfigurative, optisch außerhalb von mir gesehene oder optisch in mir im Unterbewußtsein befindliche oder in mir im Oberbewußtsein aufgebaute, jedoch momentan gegenwärtige, oder bereits gesehene oder erlebte oder visuell oder sinnlich mögliche Gebilde ... etc. ... wie siehe Nr. 1-20 (man vergesse nicht, daß es sehr verschiedene religiöse Werte gibt zufolge der verschiedenen Religionen, die alle Anrecht auf einen Wertvergleich mit demselben tao besitzen);

Finanzielle Werte: läßt sich das mir gegenüber befindliche tao genauso gut, schlechter oder besser verkaufen oder gegen andere Wertgegenstände eintauschen wie dieses oder dieses ... wie Nr. 1-20;

Heilswerte im körperlichen Sinne: kann das mir gegenüber befindliche tao mich von diesem oder jenem Leiden genauso gesunden ... wie Nr. 1-20;

Heilswerte in seelischer (psychischer) Hinsicht;

politische Werte (in monarchistischer, nazistischer, kommunistischer, sozialistischer usw. Hinsicht);

künstlerisch-ästhetische Werte: in tausendfacher Hinsicht oder zum Beispiele hat das mir gegenüber befindliche tao denselben oder ähnlichen expressiven, surrealen, gothischen, primitiven, automatischen etc. etc. (alle möglichen Ismen) Werte wie Nr. 1-20;

allgemeine, außerkünstlerische Schönheitswerte;

erzieherische Werte in schier unzähligen verschiedenen Hinsichten je nachdem; zum Beispiel hat das mir gegenüber befindliche tao denselben erzieherischen Wert wie eine Landkarte, wie ein Gedicht, wie ein Stalinbild?

Werte der sexuellen Anziehung und Abstoßung;

Strukturwerte;

Symbolwerte;

moralische Werte;

Werte als musikalische oder literarische Kraft und Quellenschöpfung;

Materialwerte: zum Beispiel kann man die Leinwand, auf der das mir gegenüber befindliche tao gemalt ist, für diesen oder jenen Zweck noch genausogut gebrauchen wie Nr. 1-20;

Seltenheitswerte;

Schwierigkeitswerte;

Schwerwerte: ist das tao, das ich jetzt in die Galerie tragen muß, nicht genau so schwer wie etc. etc. wie Nr. 1-20, wie zum Beispiel eine im Traum getragene 70 Kilo wiegende Dame

etc.

etc.

 

Nach diesen Wertassoziationen, die man unendlich fortsetzen könnte, kommen die Nützlichkeitsvergleiche, die auf alle Wertvergleiche angewendet werden, die ihrerseits mit allen Sinnesassoziationen verschachtelt sind. Zum Beispiel eine Nützlichkeitsassoziation: Ist das mir gegenüber befindliche tao genau so nützlich in materieller, religiöser, erzieherischer oder Gesundungs-Hinsicht, wie dieses oder dieses ... wie Nr. 1-20. Es lassen sich ferner erzieherische Assoziationen auf gleiche Weise in religiöser, politischer, finanzieller etc. Hinsicht einem tao gegenüber bilden.

Dann die Wirksamkeitsvergleiche, die einen großen Raum einnehmen und sich mit einem Großteil der bisherigen Assoziationen in jeder Hinsicht verschachteln lassen: Ist das mir gegenüber befindliche tao nicht genau so wirksam in künstlerischer, symbolischer, politischer etc. Hinsicht wie ...

Ferner Fragen der Existenzberechtigung, zum Beispiel: Hat das mir gegenüber befindliche tao nicht dasselbe Recht zu existieren in religiöser, künstlerischer, etc. etc. Hinsicht oder überhaupt wie ... zum Beispiel Nr. 1 ... vorübergehende, innere, außeroptische und nichtfigurative Bilder meines Oberbewußtseins (ein in mir durch eigene Kraft gestaltetes Klangbild, das ich jetzt im Kopfe habe oder das ich vor 20 Jahren innehatte und mir entschwunden ist, an das ich mich aber noch erinnere, oder das ich möglicherweise gestalten kann, könnte oder werde).

Es gibt dann sicher noch einen ganzen Haufen von Vergleichen und Assoziationsgruppen, doch mir fallen momentan keine mehr ein.

Jedenfalls kommen noch Bewegungs- und Ablaufassoziationen hinzu. Es sind Vergleiche des gegenübergestellten tao mit den 39 (20) Bildgruppen der Sinnesassoziationen in Bewegung übertragen.

Dies alles sind erst Assoziationen, die zwar den Start des inneren Gestaltungsfilmes verursachen, diesem selbst jedoch wesensfremd sind. Ein großer Teil der behandelten Bilder ist nicht mehr in Worte übertragbar und oft kaum mehr schematisierbar. Er existiert jedoch trotzdem. Jetzt jedenfalls, nach diesem langen schweren Start beginnt die eigentliche und gestaltende Bewegung des Inner-Inneren Auges. Nach Zonen ohne Oben und Unten gelangt man nochmals durch Assoziationsnebel, die sich jedoch schwierig oder kaum mehr in Worten beschreiben lassen. Durch den jetzt scheinbar mühe- und schwerelos dahinlaufenden Gestaltungsfilm wird der Beschauer mit dem Schaffenden identisch. Dem Laufe der inneren kontinuierlichen Gestaltungsreihe folgend, fällt man noch oft auf die niedersten, die optischen Assoziationen zurück, doch es folgen auch die Etappen der assoziativen Imperative, die Glück und Bewegung auslösen, das Verlangen, in äußerster Geschwindigkeit dahinzustürmen, das Leere zu füllen, das Ganze zu zerbrechen, Aufgebautes zu ruinieren, aus Nichts etwas zu gestalten, zu schreien, zu handeln, ja sogar zu sprechen; dann folgen die gegenteiligen Imperative: die des Unglücks, der Verkrampfung, des Unwohlseins, Weinens, Verblutens etc. Ebendasselbe noch immer gegenübergestellte tao löst also Assoziationen im gestaltenden Betrachter aus, die sich bereits in Energien umsetzen. Der bisherige Beschauer hat sich von den Fesseln der Assoziationen befreit, ist gestaltender Betrachter und dem gegenübergestellten tao ebenbürtig geworden.

Dort wo sich in Anbetracht des tao die Bild-, Bewegungs- und Existenz-Assoziationen in Bild-, Bewegungs- und Existenz-Energien umwandeln, dort verläuft die Grenze und dort ist die Geburt der transautomatischen Bildbetrachtung, des transautomatischen Gestaltungsfilmes.

Der Film durchläuft fast undurchdringliche Zonen und stößt dann auf andere mit außergewöhnlichen Erleuchtungen, seien sie Entdeckungen und Erfindungen, die materiell nutzbar gemacht und patentiert werden können, seien sie religiöse Erscheinungen, Visionen und Wunder, die vorerst unerklärbar und undeutbar bleiben.

Es wäre müßig und unmöglich, die weitere Bahn des Films beschreiben zu wollen.

Jenseits dieser Zonen eröffnen sich dem individuellen transautomatischen Gestaltungsfilm unbegrenzte und unendliche Perspektiven; doch angesichts der Weite des Raumes endet er de facto bald an der provisorischen und vorläufigen Grenze unserer Fähigkeiten.

Der Individualfilm zieht so in steter kontinuierlicher Entwicklung seine Bahn von der Schein-Welt zum typischen und quasi unendlichen Raum der wahren menschlichen Möglichkeiten.
 

 

Verfasst 1954 und publiziert unter dem Titel Arte come Transautomatico, in: Arti Visivi, Nr. 2, Rom, 1955, ergänzt in den Jahren 1956, 1957, 1968. 

Publiziert in:

Arte come Transautomatico, in: Arti Visivi Nr. 2, Rom 1955.

La visibilité de la création transautomatique, in: Cimaise 3/6, Paris, Mai 1956, S. 11-13.

Theorie über den Transautomatismus. Auszugsweise veröffentlicht als »Cinema individuel« in Phases, Paris 1956.

andere Auszüge in: Cimaise, Paris 1957.

Ganz veröffentlicht auf Japanisch in: Mizue. A monthly Review of the Fine Arts. Tokio 1957.

Pourquoi le transautomatism est nécessaire, in: Hundertwasser. Hrg. von Pierre Restany. Galerie Kamer, Paris 1957.

Der vorliegende Text wurde veröffentlicht als »Der Transautomatismus: eine allgemeine Mobilmachung des Auges (geschrieben 1956)«  in: protokolle, Wien 1968.

Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München 1975. Glarus/Schweiz: Gruener Janura AG 1975, S. 127-130 (Auszüge)

Katalog zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981 (Auszüge). Französische Ausgabe: Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976; Montreal, Brüssel, 1978 (Auszüge).

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 44-56 und Ausgabe 2004 (München, Langen Müller Verlag), S. 36-46

Grunenberg, Christoph und Becker, Astrid (Hg.): Friedensreich Hundertwasser. Gegen den Strich. Werke 1949-1970, Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle Bremen. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012, S. 71