ZUR ORIGINALGRAPHIK

Friedensreich Hundertwasser

Mein Ziel war es immer, vielen Menschen Freude zu machen. Ich will den Menschen Dinge geben, die schön und brauchbar sind, die für sie etwas bedeuten und sie bereichern.

Man muß sich freuen können, daß man diese Dinge hat und sie lange bewundern und in Ehren halten, auch weil man darin immer neue Inhalte entdeckt, wie auf Wanderungen durch ein unbekanntes Land oder so ähnlich wie Wunderbäume, die immer neue Zweige, Blätter und Blüten hervorbringen, die man noch nie zuvor gesehen hat.

Es hat keinen Zweck, den Menschen Häßliches, Unbrauchbares aufzuzwingen, denn das wird rasch weggeworfen.

Meine wenigen gemalten Bilder gelangten in den Besitz nur einiger weniger Sammler, was mir auch vorgehalten wurde, und um 1965 entschloß ich mich, Graphik zu machen, um mehr Menschen zu erreichen.

Dabei erkannte ich sehr rasch, daß ein hervorragendes graphisches Werk, so wie ich mir das vorstelle, ohne spezialisierte Mitarbeiter nicht möglich ist, daß ich nicht alles selbst machen kann.

Perfekt drucken, Papier herstellen, Druckfarben herstellen, Metallfolien herstellen, verlegen, finanzieren, vertreiben usw. mußte ich anderen überlassen, sonst wäre ich in der Graphik zu nichts gekommen, obwohl ich als selbstbewußter Maler gewohnt war, mein Malmaterial weitgehend selbst herzustellen wie Farben-Reiben, Holzchassis, Leinenbespannung, Grundierung, ja sogar Tusche und Pinsel.

Es gibt zwei puritanische Alternativen. Beide sind unzureichend:

1. Der technisch perfekte und geschulte Berufsdrucker, der aber kein Künstler ist, entwirft und druckt selbst eine "Originalgraphik", genau gemäß den Kriterien der technischen Originalität, denn er beherrscht ja das Handwerk und die Technik.

Entsteht so ein graphisches Kunstwerk?

2. Der ideenreiche, geniale Maler bemalt Steine oder Siebe und kratzt in Kupferplatten, scheitert aber bereits, wenn er einen zweiten Druck über den ersten anbringen will, weil er ohne technische Hilfsmittel und technische Mitarbeiter in einer primitiven, primären Drucktechnik steckenbleibt.

Wäre damit dem Fortschritt der Graphik gedient?

Der richtige Weg ist eine Zusammenarbeit von Künstler, Techniker und Drucker, wobei der Künstler die übergeordnete, dirigierende Funktion innehat und auch in den technischen Prozeß lenkend eingreift und die Verantwortung trägt.

Wie oft habe ich beim Drucker zu Hause geschlafen oder im nächsten Hotel oder auf Autoreifen vor der Druckerei, um in die Druckvorgänge jederzeit persönlich eingreifen zu können und um bei der wochenlangen Arbeit an den Probedrucken die Übersicht über die Variationen und komplizierten Zusammendrucke nicht zu verlieren.

Ich erinnere mich, daß man mich in die Lithoanstalt Mourlot in Paris gar nicht hineinlassen wollte, als ich an meinen eigenen Blättern arbeiten wollte, denn die "Originalgraphiken" werden dort von Vorlagen fotografisch abkopiert und von Technikern nachgezeichnet und reproduziert.

Der Künstler, der das Blatt dann signiert, hat dort nichts zu suchen.

Ich habe viele Neuerungen in die Kunst der Graphik eingeführt.

Ich habe, glaube ich, als erster Mischtechniken gedruckt, d.h., 3 Druckverfahren übereinander, Litho, Siebdruck, Prägedruck; habe Techniken und Farben verwendet, die in der Graphik unüblich waren: fluoreszierende Farben, reflektierende Glasperlen, phosphoreszierende Farben in Blau, Grün und Rot, die in der Nacht leuchten, Metallfoliendruck in Silber, Gold und allen Farben, Samtaufblasungen, Prägedruck konvex, craquelés, Sieb- und Metalldrucke auf Plexiglas und handbemaltem Untergrund und Druck auf Packpapier. Ich habe matte und glänzende Farben nebeneinander gedruckt.

Jahrelange Probedrucke waren vonnöten, und ich mußte viele Rückschläge erleiden.

Mir widerstrebte aber immer die Vervielfältigung, d.h., die Tatsache, daß von einer Graphik eine Auflage von soundso viel gleichen Exemplaren gedruckt wird. Ich versuchte zwar überehrlich zu sein und habe auf dem Blatt selbst angegeben, was nur möglich war: Gesamtauflage inklusive Anzahl aller Probedrucke und aller Variationen, Technik, Anzahl der Druckvorgänge, mit Farbauszügen, genaue Angabe, was von meiner Hand oder von anderer Hand stammt, Namen der Mitarbeiter, Stecher, Holzschneider, Lithographen, Siebdrucker, Prägedrucker, Papierhersteller, Farben- und Metallfolienhersteller, Oeuvre-Nummer und Titel, Datum und Ort der Arbeit sowie der Signatur, jetzt auch mein und meines Druckers Arbeitsaufwand in Tagen, meine japanischen Namensstempel, Signatur und Numerierung in nicht entfernbarer Tusche, Verleger und Vertreiber.

Doch das alles befriedigte mich nicht. Ich wollte ja, daß jeder Sammler ein individuelles Originalbild von mir besitzt.

So ging ich dazu über, immer mehr und mehr Variationen und Versionen innerhalb einer Auflage zu machen. Es war wie ein Simultanschachspiel mit vielen Gegnern. Bei 686 Good Morning City waren es bereits 80 verschiedene Farbkompositionen und 2 verschiedene Formgebungen, die ich durchnumeriert habe.

Ich hätte auch jede Version separat numerieren können, um so viele kleine Auflagen zu schaffen.


Dies tat ich nicht, weil ich den Stolz hatte, beweisen zu können, daß Hundertwasser fähig ist, auch ein großes Ensemble mit hoher individueller Qualität zu beseelen. Eine gigantische Arbeit.

Dies ist mein großer Sieg.

Jetzt ist es mir mit meinem dreiundachtzigsten graphischen Werk gelungen, so viele verschiedene Blätter herzustellen, wie die Auflage hoch ist.

Es gelang mir, nicht nur eine Graphik zu machen, sondern eine wirkliche Originalgraphik, ein Unikat. Es war eigentlich nur ein letzter Schritt in die Richtung des guten Gewissens.

Das Wort Originalgraphik sollte bedeuten, daß das Graphikblatt ein Original, ein Unikat ist, daß es weder eine Reproduktion noch eine Vervielfältigung darstellt, daß es also

1. keine Reproduktion nach einem Bild ist und

2. daß es davon kein anderes gleiches gibt.

Der Unterschied zum handgemalten Bild ist nur der, daß dieses Unikat drucktechnisch und nicht mit dem Pinsel in der Hand hergestellt wurde.

Im Zeitalter der Reproduktion und Vervielfältigung und Vermassung bin ich stolz darauf, der erste zu sein, der das Fließband umfunktioniert und besiegt hat, denn ein Fließband, das Unikate produziert, verliert seinen Schrecken und ist auch kein Fließband mehr.

Wenn die Blätter einer Auflage so verschieden sind wie die Blätter eines Baumes und alle Blätter, jedes einzelne, eine individuelle Selbstberechtigung hat, und wenn man dies bewerkstelligt hat, fühlt man sich wirklich wie ein Schöpfer.

Diese Originalgraphik wird eine Revolution einleiten, denn sie stellt nicht nur die Notion der vervielfältigten Druckgraphik auf den Kopf, sondern ich kann mir auch vorstellen, daß man Autos und Konsumgüter, die bisher alle gleich waren, so verschieden voneinander herstellen kann, wie ein Mensch vom anderen Menschen verschieden ist.

 

Verfasst für die Broschüre anlässlich des Erscheinens der Graphik 860 10002 NIGHTS HOMO HUMUS COME VA HOW DO YOU DO, herausgegeben von Die Galerie, Offenbach am Main, 1984.

Publiziert in:

Broschüre zu 860  10002 Nights Homo Humus Come Va How Do You Do. Offenbach am Main: Die Galerie 1984

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