Brief von Wieland Schmied an Hundertwasser
Lieber Hundertwasser, lieber Freund,
ich schreibe Dir diesen Brief, nachdem ich Deine Rede vom 14. Mai 1981 zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises zweimal aufmerksam und in Ruhe gelesen habe – wie ich es mit allem tue, was von Dir kommt. Ich fühle mich verpflichtet, Dir gleich zu antworten, und ich hoffe, Du findest die Zeit, das, was ich Dir sagen will, ebenso aufmerksam und in Ruhe zu lesen und mir vielleicht auch zu antworten. Ich schreibe Dir als Dein Freund, der Dich und Deine Arbeit seit mehr als dreißig Jahren kennt, der Deinen Weg verfolgt (und streckenweise begleitet hat), der Deine Bilder liebt und der alles, was Du malst, was Du tust, was Du sagst, sehr ernst nimmt.
Als ich Deine Rede las, war ich von ihr berührt und beglückt und zugleich bestürzt und betroffen. Das möchte ich Dir offen sagen. Und ich möchte das begründen. Das meine ich Dir als Freund schuldig zu sein. Ich war berührt und beglückt von Deinen Gedanken, die Du im ersten und im zweiten Drittel Deiner Rede äußerst (und so oder ähnlich schon oft geäußert hast und auch künftig, weil notwendig, wiederholen wirst). Ich kenne diese Gedanken und ich teile sie weitestgehend, wie ich die Empfindungen und Emotionen kenne, die dahinterstehen, und auch sie teile. Sie sind mir seit langem vertraut; ich freue mich, sie wiederzusehen und wiederzulesen – weil es notwendig ist, daß sie wieder und wieder formuliert werden – und auch, weil immer wieder ein neues Argument, ein neues Beispiel, eine neue Formulierung hinzukommen.
Diese Deine Überzeugung, dieser Dein Kampf für eine bessere, schönere, gesündere Welt, diese Deine Botschaft ist wichtig. Ich will sie nach Maßgabe meiner Kräfte und Möglichkeiten unterstützen, wo immer ich kann. Ich will für sie einstehen, sie verbreiten, sie interpretieren, damit sie viele Menschen erreicht. Diese Deine Überzeugung ist so wichtig wie Dein Werk. Sie ist Teil Deines Werkes – wie Dein Werk Ausdruck ist Deiner Überzeugung. Das ist nicht zu trennen. Das gehört zusammen. Das bist Du, Hundertwasser.Aber ich war betroffen und bestürzt über das, was Du im letzten Drittel sagst, wo Du auf die Entwicklung der Modernen Kunst, auf die Avantgarde, auf die Künstler und Kritiker von heute zu sprechen kommst.
Hier erkenne ich Dich nicht wieder. Hier finde ich nicht den Hundertwasser, der mir vertraut ist und den ich liebe. Hier meine ich jemanden zu sehen, der blind ist – der sich selbst blind machen will oder blind gemacht wird. Hier muß ich Dir widersprechen. Weil Du Dir selbst widersprichst, weil Du Deinen Anfängen in Paris, Deinen Anfängen in der Avantgarde, Deinem Aufbruch als moderner Künstler widersprichst. Hier muß ich Dir widersprechen, weil ich aus Teilen Deiner Rede, die Stimme des spießigen Kleinbürgers heraushöre, den Du doch immer verachtet hast. Weil ich da die Stimme der Verleumdung dessen, was Dir fremd ist, heraushöre. Und weil ich meine, daß Spießbürgerlichkeit und Verleumdung Deiner, wie ich Dich kenne und wie ich Dich achte, nicht würdig sind.
1959 hast Du ein Bild gemalt »Hommage au Tachisme«. Es ist eines Deiner schönsten, eines Deiner tiefsten Bilder. Du hast es gemalt, obwohl Du nicht Tachist warst – oder weil Du nicht Tachist warst. Es war eine Hommage an die anderen, die einen anderen Weg gehen. An die anderen, die vielleicht Deine Gegner sind, aber nicht Deine Feinde. An die anderen, die Du vielleicht nicht verstehst, die Du aber dennoch aus der Ferne mit jener Sympathie betrachtest, die wir allem Lebenden entgegenbringen sollen. Indem Du die anderen, die einen anderen Weg gingen, in dieser Weise betrachtet hast, hast Du Deinen Weg an dem ihren überprüft. Hast Du Deine Kräfte mit den ihren gemessen. Bist Du an ihnen gewachsen. Das war eine Leistung, die mir imponierte. Das ist ein Bild, das bleiben wird. Wie kannst Du sagen, die zeitgenössische Kunst sei entartet? Sie sei ein Horrorpanoptikum? Denk an die Werke von Joseph Beuys und Mario Merz, an Paolini und Gironcoli, an Rainer und Pichler und … und … und … Sind das alles Ausnahmen? Wen meinst Du dann?
Aber selbst dort, wo die zeitgenössische Kunst etwas vom Horror zeigt, von dem diese Welt voll ist, tut sie es doch aus Wahrhaftigkeit, zeigt sie, was Menschen den Menschen antun können, klagt sie Inhumanität an, nimmt sie Stellung. So wie Du in Deinen Bildern die positive Utopie eines irdischen Paradieses suchst, so zeigen einige Künstler heute warnend, anklagend und verzweifelt eine zerstörte und zerstörerische Welt, eine irdische Hölle. Das hat es immer gegeben in der Kunstgeschichte. Bosch und Breugel, die Du liebst, haben das getan vor Jahrhunderten. Dix und Grosz und Schlichter und Hubbuch haben das getan in den zwanziger Jahren. Andere kritische Realisten wie Hrdlicka tun das heute. Wir sollten ihnen dafür dankbar sein.
Es war immer schon ein spießiges Vorurteil des ungestört bleiben wollenden Kleinbürgers, die Künstler für das Grauen verantwortlich zu machen, das eigentlich wir alle (nicht nur die Politiker, die wir uns gewählt haben) zu verantworten haben. Die Künstler zeigen realistisch, was sie in dieser Welt gesehen haben – oder beschreiben visionär, was vor ihrem inneren Auge erscheint (wie Ensor, wie Kubin das getan haben in ihren frühen Jahren). Die Visionen, die Künstler heute haben, sind eher noch düsterer. Diese Visionen sollten uns warnen. Wir sollten durch sie zur Besinnung kommen – nicht die Künstler verdammen, die uns damit bedrängen. Wir sollten auf die Warnungen der Kassandra hören – und nicht versuchen, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen.
Aber die Kunst heute will nicht nur warnen. Sie will uns – von Kurt Schwitters bis zur arte povera – sensibel machen für die Werte, die im Geringen, im scheinbar Bedeutungslosen, z. B. im Abfall liegen. Darf ich Dich daran erinnern, daß Du selbst einmal, 1952, aus Abfall eine wunderschöne Arbeit gemacht hast, »Die Werte der Straße« genannt – da wolltest Du Werte entdecken, die wir gewöhnlich übersehen oder gering achten, durch eine Aneinanderlegung von weggeworfenem Zuckerlpapier und leeren Zigarettenpackungen etc. Erinnerst Du Dich? Du blicktest auf die geringsten Dinge, auch auf eine abbröckelnde Mauer, das schmutzige Trottoir mit einem Blick, der bereit war, etwas zu entdecken. Hast Du diese Sensibilität verloren? Sie war ein Teil Deines Wesens, Deines Werkes – und sie gehört nach wie vor zu meinem Bild von Hundertwasser.
Die Kunst hat in den letzten beiden Jahrzehnten auf vielen Wegen und mit vielen Strategien versucht, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden – Happening und Performance, individuelle Mythologie und Spurensicherung, Conceptual art und als Gegenpol Land-Art, Minimal art und wiederum entgegengesetzt Body art waren und sind solche Wege unserer selbst inne zu werden, bewußt zu werden, auszusteigen aus den Zwängen unserer Existenz, zu uns selbst zu finden und schließlich unser Leben zu ändern. Es sind nicht mehr Deine Wege. Du bist diesen Weg für Dich vorausgegangen, bist Deinen Weg in den vierziger und fünfziger Jahren gegangen und ans Ziel gelangt. Warum willst Du die, die nach Dir kommen, und die einen anderen, aber vergleichbaren Weg zu sich selbst suchen, verdammen?
Wenn ich auf Dein Werk aus dieser Zeit sehe, auf den um-und-um bemalten Sessel, auf Deinen Pullover, das bemalte Auto, denen Du allen Œuvre-Nummern in Deinem Werkkatalog gegeben hast zum Zeichen, daß Du sie ganz ernst nimmst, schließlich auf Deinen Œuvre-Katalog selbst, der für mich in sich selbst ein Kunstwerk ist, dann sehe ich Dich als legitimen (und noch viel zu wenig gewürdigten) Vorläufer vieler Richtungen, die erst in den sechziger und siebziger Jahren akut geworden sind. Dein Werk-Katalog repräsentiert für mich Dein Leben als Werk – wie es Deine Tagebücher tun, wie es Dein Schiff Regentag tut, wie es Dein Wald und Deine Wiesen und Deine Hügel und Dein Mangrovensumpf in Neu-Seeland tun. Sie sind für mich eine Art Bekenntnis, so wie Deine früheren Aktionen – die Brennessel-Aktion, die Unendliche Linie, die Nacktreden – Bekenntnisse waren. Hast Du das alles vergessen? Willst Du Dich selbst verleugnen, wie der späte de Chirico seine frühen metaphysischen Bilder verleugnete, als er alt und satt und müde geworden war?
Ich frage mich: wie tief mußt Du verletzt worden sein, von dummen, von ahnungslosen, von bösartigen Artikeln, die sich gegen Dich, gegen Dein Werk, Dein Bekenntnis richten und alles in den Dreck zu ziehen versuchen, daß Du so blind, so pauschal, so undifferenziert zurückschlägst und mit Deinen Gegnern auch Deine Freunde triffst und verletzt? Du sprichst vom »avantgardistischen Trottel«. Aber dieser avantgardistische Trottel – der schöpferische Künstler der sechziger und siebziger und achtziger Jahre – sollte und müßte Dein natürlicher Verbündeter sein! Denn wo ich hinschaue, in Deutschland, in Italien, in Frankreich, sind es diese avantgardistischen Künstler, die sich, wo sie nur können, für die Ökologie engagieren – von Beuys über Rinke, bis zu H. A. Schult –, Beuys hat sogar eine eigene Partei für sie gegründet und führt den Wahlkampf der Grünen, tritt leidenschaftlich gegen Kernkraft auf. Weißt Du das alles nicht? Siehst Du das nicht? Oder verschließt Du einfach die Augen und willst es nicht sehen? Sind Deine Augen wirklich müde geworden?
Für mich standest Du – und stehst Du nach wie vor – in dieser Avantgarde, für die Kunst und Leben eins ist, die sich an den Menschen wendet und nicht Part pour Part will, die weiß, daß die Frage der Ökologie die Überlebensfrage der Menschheit ist. Ich glaube, alle Künstler der Avantgarde wissen das heute und vertreten das in ihrem Werk – wenn man es nur zu sehen vermag, und manche von ihnen vertreten es auch ausdrücklich in ihren Worten oder Schriften. Ohne diesen Einsatz der Avantgarde, der gerade das Bewußtsein der kritischen Intellektuellen erreicht, wäre es um die Sache der Ökologie, um ein Bewußtsein von der Natur, ihrem Gleichgewicht, ihrem Kreislauf, ihren Ressourcen, die wir nicht zerstören dürfen, sehr viel schlechter bestellt.
Wer sich heute, weil sie ihm zu schwierig, zu unverständlich, zu unbequem geworden ist, gegen die Avantgarde stellt und sie verdammt – wird der sich nicht vielleicht schon morgen auch gegen die Ökologie, ihre Probleme und ihre Forderungen stellen, weil sie ihm zu unbequem wird und es bequemer ist, immer mehr und mehr neue Energiequellen zu verlangen, um so weiter zu leben in der großen Verschwendung und mit all den künstlichen Bedürfnissen wie bisher? Wer heute die Kunst verurteilt, weil sie zu viele Ansprüche stellt und zu komplex erscheint, der wird morgen die Ökologie verurteilen, weil auch sie zu viele Ansprüche stellt und Konsequenzen hat. Täusche Dich nicht: es ist nur eine kleine wache Minderheit, die die Fragen der Ökologie richtig erkannt hat, die weiß, daß wir tatsächlich an die Grenzen des Wachstums gelangt sind, daß es so nicht weitergehen darf mit Industrialisierung und Atomkraftwerken, mit Verschmutzung der Gewässer und Verseuchung der Luft, mit unseren Eingriffen in den Haushalt der Natur … denn die Konsequenzen heißen: Einschränkung, Bescheidung, Verzicht. Und eben das lehrt auch die Kunst der Avantgarde in den letzten Jahren … die ungefähr die gleich wache Minderheit von Menschen erreicht wie die engagierten Ökologien.
Du sprichst von einer Mafia der Museumsleute und Galeristen, der Kunstmacher und Kunstbetreiber, von frustrierten Intellektuellen. Ich kenne die Gesellschaft, von der Du sprichst, und ich will sie gewiß nicht glorifizieren. Aber sie sollte ebensowenig verteufelt werden wie irgendeine andere Gruppe von Menschen. Ich sage das, weil ich sie kenne, weil ich mir keine Illusionen über sie mache, weil ich ihre Fehler und Grenzen erlebt habe, wie ich meine eigenen Fehler gemacht und meine eigenen Grenzen erfahren habe. Das alles schreibt sich so leicht inmitten der wunderbaren, unzerstörten, traumhaften Natur Deines Kaurinui Valley in der Bay of Islands. Aber es trifft nicht die Wirklichkeit. Wieder muß ich sagen: erinnere Dich doch, wie es war in den fünfziger Jahren, als Du in Paris mit Facchetti und Flinker, mit Kamer und Raymond Cordier und all den anderen zu tun hattest, mit Restany und Jouffroy und den Sammlern … war das wirklich eine einzige Mafia? Sie war es vielleicht für den Außenstehenden.
Für den, der selber mitspielte, sah es ganz anders, sehr viel differenzierter aus. Gewiß, es waren alles Menschen mit ihrem Egoismus, mit ihrer Sehnsucht nach Erfolg (und vielleicht Reichtum), aber zugleich mit der Sehnsucht nach Erkenntnis und nach Erfüllung unserer Existenz … Wer, der das wirklich kennt, wollte es pauschal verdammen, wollte den Menschen mit all seiner Menschlichkeit, seiner Geschicklichkeit und Ungeschicklichkeit so pauschal verurteilen. Doch nur der Ahnungslose, der Außenstehende, der überall eine Verschwörung, eine Mafia am Werk wittert … so wie der Ahnungslose, der Außenstehende, ob in Wien oder irgendwo in der paradiesischen Natur eines Waldviertels auch Dich, Hundertwasser, und Deinen ungeheuren Erfolg, Deinen Reichtum, beneidet und darum schlecht macht und dahinter eine Hundertwasser-Mafia, eine Hundertwasser-Verschwörung wittert.
Ich erinnere mich, in einer Wiener Zeitung vor Jahren einmal gelesen zu haben »Hundertwasser verdankt den Erfolg einer Manipulation des internationalen Kunstmarktes«. Was für ein Unsinn! Ich war sehr ärgerlich darüber, habe mich darüber aufgeregt und widersprochen! Umso mehr bin ich betrübt, wenn ich jetzt sehe, daß Du auf dasselbe Niveau heruntersteigst und pauschal alle verdächtigst, die mit Kunst zu tun haben, ja die Künstler selbst angreifst, alle, die doch den gleichen Kampf kämpfen, für die gleichen Ideale einstehen wie Du selbst!
»Kunst ist jedoch etwas Religiöses«, sagst Du. Ja! Aber willst Du anderen bestreiten, nur weil Du sie nicht genau genug siehst, weil Du Dich zu sehr von ihnen entfernt hast, daß es für sie nicht ebenso ist? Du weißt, wie verschieden die Religionen dieser Erde sind in ihren Ausprägungen …Ich sage Dir das alles, weil der letzte Teil Deiner Wiener Rede mich betroffen gemacht hat. Ich fühle mich selbst betroffen. Aber ich sage es Dir auch um Deinetwillen, um Deiner Ziele und Deiner Ideale willen, um Deiner Liebe zur Natur willen, Deiner Liebe zu Bäumen und Wiesen, die uns helfen sollen, als Menschen zu überleben.
Und ich warte auf eine Antwort. Wenn noch etwas vom alten Hundertwasser in Dir ist, wirst Du mich verstehen. Ich weiß, es geht Dir doch nicht um den schnellen Beifall der Bürger und die Publicity der Illustrierten, sondern es ist Dir ganz ernst um die Sache. Deswegen wollte ich Dir offen sagen, wie unglücklich ich über den Schluß Deiner Wiener Rede war. Er scheint für mich alles in Frage zu stellen, was Du sonst über die Schöpferkräfte im Menschen, über Fensterrecht und Baumpflicht und unser Leben auf dieser Erde, die eine paradiesische sein könnte, sagst.
Ich grüße Dich sehr herzlich in alter Verbundenheit Dein Wieland
P.S. Du verwendest das schlimme Wort von der »entarteten Kunst«. Das klingt fast, als wolltest Du Dich mit den Nazis solidarisieren. In diese Nachbarschaft solltest Du Dich nicht begeben. W.“
Brief von Wieland Schmied, in dem dieser Hundertwasser heftig für seine Rede anlässlich der Verleihung der Großen Österreichischen Staatspreises kritisiert. Verfasst 1981.
Publiziert in:
Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Langen Müller Verlag 2004, S. 197-202