BRIEF AN HANNES MINICH - ZUR SPITTELAU
Lieber Freund Minich,
Dank für deinen Brief vom 25. Mai betreffs Fernheizwerk Spittelau. Ich verstehe völlig, dass du dagegen bist, ebenso wie ich auch und viele besorgte Menschen. Ich selbst bin in der Brigittenau aufgewachsen, also ganz dicht dabei. Es fehlt in deinem Brief jedoch ein realisierbarer Alternativvorschlag für jetzt. Wir selbst, wir alle, jeder einzelne Wiener, sind für unseren Müll verantwortlich. Wenn wir keinen Müll produzieren, kann keiner verbrannt werden. Boykottieren wir die Müllverbrennungsanlagen dadurch, dass wir ihr keinen Müll liefern. Ist das in Wien zur Zeit realisierbar? Man müsste den Müll kriminalisieren. Man müsste die Müllerzeuger, die Verpackungsindustrie, die Müllverursacher, die Müllmacher, d.h. uns alle empfindlich bestrafen, um eine radikale Müllvermeidung zu erreichen.
Ich habe ein ganzes Jahr mit mir gerungen, mit den gleichen Argumenten wie die deinen für eine Absage, ehe ich mich entschlossen habe, den Auftrag der architektonisch visuellen Neugestaltung anzunehmen. Wie du weißt, bin ich vehement gegen alle Umweltgifte und trete seit immer mit allen meinen Mitteln für eine abfallfreie Gesellschaft ein. Ich bin jedoch Realist. Man kann nicht die Augen vor der Realität verschließen. Alle meine Utopien und Träume sind realisierbar, was ich auch immer wieder unter Beweis stelle.Nach eingehender Prüfung, was passieren würde, wenn Spittelau nicht in Betrieb geht, d.h. wenn man zu Ende denkt, sind die negativen Auswirkungen bei weitem schlechter. Denn die abfallfreie Gesellschaft ist nicht für morgen. Hoffentlich für übermorgen. Ich werde vehement dafür kämpfen und wir alle müssen täglich daran arbeiten.
Die negativen Überlegungen:
Müllverbrennung im verbauten Stadtgebiet mit der Furcht, dass Giftstoffe innerhalb der Stadt Menschen gefährden.
Überspringung der Humusetappe durch die Verbrennung. Der Recycling-Kreis wird unterbrochen.
Die positiven Überlegungen:
Weitgehende, fast vollständige Unschädlichmachung der Giftstoffe im Müll durch Verbrennung mit neuer (letzter Stand) De Nox Filteranlage.
Gewinnung von Wärme, 10 - 15 % Wiens wird damit geheizt.
Durch meine Neugestaltung wird dem Werk die Hässlichkeit dieser Großanlage genommen, wodurch die psychische Belastung durch die immense und bedrohliche optische Umweltverschmutzung des bisherigen Anblickes wegfällt.
Ich bin sicher, es entsteht sogar ein Stolz, dieses neue Wahrzeichen Wiens in der Nähe zu haben und dies hebt das Selbstbewusstsein und die Lebensfreude eines ganzen Stadtteils. Insbesondere wenn auch die Filteranlage und der technische Teil weltweit beispielgebend sind. So paradox es klingt, ich sehe die Spittelauer Anlage als erstes Mahnmal für eine schönere abfallfreie Zukunft. Ich bin auch stolz, dass diese Beispielgebung in Österreich geschieht. Die Obrigkeit, die Bürokratie, die Politiker und verantwortungsvolle Techniker haben getan, was sie konnten. Man muss das anerkennen. Es liegt an uns zu beweisen, dass wir noch mehr und noch besser tun können. Proteste allein helfen hier nichts. Nur eine neue Gesellschaft, ausgerichtet nach den wahren ökologisch-kreativen Werten, die wir selbst schaffen, kann eine schrittweise Wende herbeiführen.
Nun im Detail:
Die kalte Verbrennung (Verrottung in Deponien von Müll) hat die gleiche Auswirkung wie die heiße Verbrennung.
Es wird der gleiche Sauerstoff verbrannt, d.h. der Luft entnommen, nur in einem größeren Zeitraum.
Die Luft wird mit dem gleichen CO2 angereichert in einem größeren Zeitraum.
Es entweichen in Luft und Wasser etwa die gleichen Gifte und Schadstoffe, nur dauert es länger.
Es entsteht die gleiche Wärme (Energie), allerdings ungenützt. Z.B. ein Stück Holz gibt die gleiche Energie ab bei der Humusierung und Mineralisierung in etwa 3 - 5 Jahren wie im Ofen verbrannt in nur einer Minute.
Es entsteht die gleiche Asche (Rückstand). Ein Stück Holz in einer Minute (heiße Verbrennung) oder in 3 - 5 Jahren bei der kalten Verbrennung
Nur: Bei den Deponien werden die Gifte nicht unschädlich gemacht und entweichen ungehindert. Insbesondere die Schwermetalle, die in Spittelau wiedergewonnen werden. Falls der Müll mit Lastwagen aus der Stadt gebracht wird, sei es auf eine Deponie, sei es in eine Verbrennungsanlage, sagen wir 30 km von Wien entfernt, würde allein durch den Rauchgas- und Giftausstoß der Verbrennungsmotoren der Lastwagen eine weit höhere und tatsächliche Gefährdung der Bevölkerung eintreten als durch das Spittelauer Fernheizwerk und zwar zusätzlich. Man bedenke: etwa 2.000 Tonnen Müll täglich, transportiert mit etwa 300 Lastwagen, mit je Lastwagen etwa 5-mal so viel Giftauspuff, ungefiltert, wie bei normalen Autos. Noch dazu auf den Straßen in Atemhöhe! Außerdem könnte der Müll nicht für das Fernwärmesystem Wiens genutzt werden. Die ohnehin potentiell gefährlichen Deponien Wiens sind fast voll und können nichts mehr aufnehmen.
Die Luftschicht der Erde ist ein kommunizierendes System. Ob der Schlot in Wien oder in Alaska steht, es hat eigentlich die gleiche Auswirkung für alle Erdbewohner. So wie die Verschlechterung der Atemluft weltweit konstatierbar ist, ob in Europa, in der Wüste Sahara oder in Neuseeland. Der jetzige unsortierte Müll ist derartig giftig, dass der daraus gewonnene Kompost nicht mehr als Humus für Garten und Landwirtschaft verwendet werden kann. Erschreckenderweise auch nicht für Wälder. Nach Messungen und Berechnungen wird der anfallende Dioxingehalt, der aus dem Spittelauer Schlot herauskommen wird, pro m³ Luft weniger als 0.0000000004 (9 Nullen) betragen. Der tatsächlich eingeatmete Dioxin- bzw. Forangehalt pro m³ Luft wird aber nur maximal 0.00000000000002 (13 Nullen) betragen. Ich glaube nicht, dass diese Zahlen erlogen sind. Auch weniger Nullen wären beeindruckend. Die Schadstoffmenge wäre, proportional auf die Entfernung Mond - Erde (380.000 km) übertragen, die Strecke von 1,2 Millimetern!
Die zukünftige Filterkapazität von Spittelau ist schon unglaublich. Insbesondere werden auch die giftigen Schwermetalle Kadmium, Blei, Zink, Chrom etc. zu 99.9 % ausgefiltert und gelangen nicht in Luft oder Grundwasser. Die anfallende Schlacke und Flugasche wird bei dem Denox-System ganz besonders unschädlich gemacht und quasi total neutralisiert. Das ist überhaupt eine der ganz großen Errungenschaften der neuen Anlage. Außerdem ist ein großer Teil der Schlacke in Glas gebunden. Aus den Filtern werden die Schwermetalle wiedergewonnen. Die Konzentration der Schwermetalle in den Filtern ist weitaus höher als in den Bergwerken und die Rückgewinnung der Schwermetalle ist sehr viel einfacher und energiesparender. Man gewinnt hohe Mengen von Schwermetallen, die normalerweise nicht nur verloren gehen, sondern uns alle vergiften.
Zigarettenrauch und Autoabgase ergeben eine viel schlimmere Gefährdung durch Dioxine, Kohlenmonoxyde, Stickoxyde und so fort. Wie viel Schlote (ungefiltert) das ausmacht, ist nicht auszudenken. Mit einer tatsächlichen Gefährdung von unten her, in Atemhöhe! Wenn man den Auspuff eines einzigen Autos einatmet ist man binnen Minuten tot. 600.000 Autos sind in Wien registriert, glaube ich! Trotzdem fahren wir alle Autos, auch die Umweltschützer. Wie sind da die Giftzahlen? Auch eine Null mit vielen Nullen? Die Problematik einer Auto-(Abgas-)freien Gesellschaft ist ähnlich der einer abfallfreien Gesellschaft. Es geht nicht von heute auf morgen. Bevor ich mich entschlossen habe, diesen Auftrag anzunehmen, hat mir Lötsch geholfen, einen Absagebrief zu konzipieren. Dann war er jedoch auch der Meinung, dass eine Verhinderung der neuen Verbrennungsanlage mangels einer realistischen jetzigen Alternative ökologisch einen größeren Schaden verursachen würde als die Inbetriebnahme und hat die Entscheidung der künstlerischen Umgestaltung mir überlassen.
Tiefergehende Studien auf globaler Basis bringen das, was ich ohnehin schon wusste. Eine Mülltrennung bringt nur eine temporäre Entschärfung der ökologischen Sackgasse. Die kompostierbaren, weitgehend ungiftigen Substanzen müssten gesondert der Humusierung zugänglich gemacht werden. Jedoch nur eine totale Müllvermeidung des gesamten Menschengeschlechtes wäre die Antwort: eine abfalllose Gesellschaft. Und diese totale Müllvermeidung wäre nur die: keine brennbaren Fossilien, keine giftigen und radioaktiven Stoffe aus dem Untergrund der oberen Erdkruste an die Oberfläche befördern! Wenn Stoffe wie Erdöl, Kohle und Giftsubstanzen an die Erdoberfläche gebracht worden sind, ist es ganz egal, ob man sie verbrennt oder deponiert, im heißer oder kalter Verbrennung, ob man sie in Kunststoffe, Plastik etc. umwandelt, ob man sie wiederverwertet, ob man diese Plastik- oder sonstigen Kunststoffprodukte verbrennt oder nicht verbrennt, wiederverwertet oder deponiert. Das Endergebnis ist das gleiche. Eine mit Giftstoffen angereicherte und aus dem Gleichgewicht geratene Atmosphäre, ein vergifteter Humus-, Wasser-, Luft-, Pflanzen-, Tier- und Menschenraum.
Also, wenn man die ungeheure Konzentration von fossilen Brennstoffen, die sich in Jahrmillionen gebildet haben, auf einmal verbrennt oder kalt verbrennt, d.h. deponiert, oder die Produkte aus Öl und Kohle verbrennt oder nicht verbrennt, das katastrophale Resultat ist das gleiche mit ausweglosen Konsequenzen für die nächsten Generationen. Es gibt nur einen Ausweg. Ab sofort keine fossilen Brennstoffe mehr aus dem Untergrund holen. Die Natur hat Jahrmillionen gebraucht, um die Gifte, die sich an der Oberfläche der Erde befanden, mit einer Humus-, Pflanzen- und Sauerstoffschichte zuzudecken. Indem wir diese Gifte wieder an die Oberfläche befördern, erzeugen wir gewaltsam wieder den ursprünglichen Zustand von vor Jahrmillionen, als der Mensch auf Erden noch nicht leben konnte.
Ich hoffe, du siehst die ganze Problematik in ihrer Gesamtheit. Man muss für die sofortigen Notwendigkeiten nicht nur das kleinere Übel, sondern den einzig möglichen Ausweg zur Zeit wählen und täglich für eine bessere Zukunft kämpfen.
Bitte diesen Antwortbrief fairerweise und im Interesse der uns alle betreffenden ökologischen Sache gleichzeitig mit deinem Brief in den Wiener Naturschutznachrichten zu veröffentlichen.
Herzlich Dein Hundertwasser
Geschrieben in Wien am 3. Juni 1988.
Publiziert in:
Wiener Naturschutz-Nachrichten 4/88, Wien
Rand, Harry: Friedensreich Hundertwasser. Köln: Taschen 1991, S. 70-71, gekürzte Ausgabe 1993 und Ausgabe 2003, S. 60-61
Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Langen Müller Verlag, 2004, S. 268-272