KULTUR GEGEN KERNKRAFT
Es gibt keine Energiekrise. Es gibt nur eine maßlose Energieverschwendung. Hat die Natur eine Energiekrise, haben die Vögel, die Bäume, die Käfer eine Energiekrise? Nur der Mensch bildet sich ein, eine Energiekrise zu haben, weil er wahnsinnig geworden ist. Der heutige Mensch ist der gefährlichste Schädling, der je die Erde bevölkert hat. Der Mensch muß wieder in seine ökologischen Schranken verwiesen werden. Damit sich die Erde regenerieren kann. Unmengen von Energie, Zeit und Geld werden verwendet, um Menschen einzureden, daß sie unnötige Dinge haben wollen. Das schafft Frustration, Mord und Totschlag, denn es ist nicht möglich, daß alle alles haben können.
Wir leben scheinbar im materiellen Glück, tatsächlich jedoch im seelischen Unglück. Um glücklich zu sein, braucht der Mensch keinen äußeren Reichtum, sondern einen inneren Reichtum der Seele. Um glücklich zu sein, braucht der Mensch keine mechanische Energie, sondern eine innere schöpferische Energie. Der wahnsinnige, unbegründete Energieverbrauch des Menschen müßte einer dementsprechenden verantwortungsbewußten, schöpferischen Intelligenz entsprechen. Dem ist aber nicht so.
Der Mensch ist ein dummes Herdentier geblieben, das plötzlich irrsinnige Mengen von Energie, von Giften und anderen Mordmitteln zur Verfügung hat, die es wild verpulvert oder rücksichtslos zur Vernichtung der Umwelt und der eigenen Brüder einsetzt. Und gierig verlangt dieser Mensch, dieses dumme Herdentier, nach noch mehr Energie, noch mehr Giften und noch mehr Mordmitteln. Konsum ist kein Allheilmittel. Es wird kopflos produziert, wie wahnsinnig konsumiert, blind verschwendet, und der Mensch wird zur Konsummaschine degradiert. Kernenergie soll wohl diese gefährlichste aller Versklavungen verfestigen.
Wer Kernenergie propagiert, ist entweder maßlos kurzsichtig, tendenziös informiert oder bewußt kriminell. Es ist Aufgabe des Staates, die Bevölkerung über die Gefahren der Kernenergie aufzuklären.
Ich stehe vor einem Rätsel. In Österreich tut man alles für Sicherheit. Am Arbeitsplatz, für die Schuljugend, man baut Geländer, impft und untersucht, um gegen die Gefahren von Unfall und Krankheit gewappnet zu sein. Jedoch gegen die größte Gefahr, die Kernenergie, tut der Staat nichts, um die Bevölkerung davor zu schützen. Wo sind die Notstandspläne zum Schutz gegen Katastrophen ausländischer Reaktoren jenseits der Grenzen? Es werden keine Evakuierungsmanöver, Notstandsmaßnahmen durchgeführt. Man will das Übel sogar im eigenen Land haben.
Das Gefährliche am Atomgift ist sein schleichender Charakter. Man sieht es nicht, hört es nicht, riecht es nicht. Es bringt uns langsam um. Unsere Sinnesorgane können uns nicht warnen. Es gibt dagegen keine Medizin. Wissen wir, wo die Inkas, wo die Karthager Dinge vergraben haben? Und das ist erst 2000 Jahre her. Wissen wir, wo unsere Großmutter ihre Goldmünzen versteckt hat? Und das ist erst fünfzig Jahre her. Nukleares aber bleibt 500 000 Jahre todesgefährlich für alles Leben. Wenn die Gefahr die Investition in den Schatten stellt, wenn sich herausstellt, daß das Nebenprodukt der Tod ist, hat die Regierung die Pflicht, falsch Angefangenes und Fertiges als Fehlinvestition zu erkennen und abzubrechen.
Das ist doch selbstverständlich. Es ist ungeheuerlich, daß nur eine große Katastrophe in einem Nachbarland oder im eigenen Land einen Denkanstoß geben kann, wenn es bereits zu spät ist. Atomenergie ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine gigantische wirtschaftliche Katastrophe.
Kosten der Kernenergie:
1. Bau.
2. Forschung.
3. Urankauf.
4. Gehirnwäsche und Indoktrinierung in den Medien (Fernsehen, Schule).
5. Transport, auch zur Wiederaufbereitung und zur Endlagerung.
6. Spezialschutzvorrichtungen gegen Radioaktivität.
7. Endlagerung.
8. Ärztliche Überwachung der Arbeiter und der Bevölkerung (Radioaktivität).
9. Größerer Polizeiapparat. Schutz von innen gegen Sabotage und Terrorismus auf Generationen hinaus.
10. Schutz nach außen. Verstärkte Landesverteidigung. Die friedliche Nutzung der Kernenergie läßt sich nicht von Atomwaffen trennen. Das sind zwei Seiten derselben Münze.
11. Erdbebenüberwachung (Kontrolle, Instandhaltung, Reparaturen).
12. Manöver (Evakuierungsübungen) für den Ernstfall.
13. Demontage und Beseitigung der radioaktiven Anlagen innerhalb dreißig Jahren.
14. Kosten für den Ernstfall.
15. Schadenskosten muß der Staat tragen (bisher war keine Versicherungsanstalt dazu bereit, für die gigantischen Schäden zu haften). Wenn Kernkraft so sicher ist, wieso kann man sich nicht gegen deren Schäden versichern lassen?
16. Krankheiten jetzt (Unfälle, Krebs).
17. Krankheiten in den nächsten Generationen (genetische Veränderungen, Krebs).
18. Krankheiten an Tieren und Pflanzen (Mutationen, Seuchen).
19. Bezahlung und Begünstigung und Bestechung der Anrainer.
20. Verlust der Arbeitsplätze durch Automation.
21. Erstarren des überholten Systems, Umdenken hinausgeschoben. Die Konsumgesellschaft, Wachstum um jeden Preis, Energievergeudung, Wegwerfgesellschaft werden verewigt.
22. Verlust der Menschenwürde durch neue Leibeigenschaft, Abhängigkeit von der Technokratie.
23. Kosten des Energieverlustes durch Energieübertragung im Stromnetz.
24. Gigantischer Energieverlust: zwei Drittel der Energie geht durch Kühlung verloren. 25. Doppelte Kosten bei Störfällen durch Arbeitsausfall und Reparatur.
26. Generell größerer Verwaltungsapparat für Spezialbewilligungen (zum Beispiel Transport für nuklearen Abfall).
27. Thermische Belastung von Flüssen und die Folgekosten für Tier und Mensch (wärmerer Fluß empfindlicher gegen Umweltschäden).
28. Seelische konstante Schädigung durch die Ohnmacht gegenüber dem allgewaltigen Moloch.
29. Die Verdunkelung des Zukunftshorizontes. Die Jugend sieht keinen Sinn und Zweck in der supertechnokratischen Zukunft. Es ist ein Diebstahl der Hoffnung. Man wird des Lebens nicht mehr froh, weil auf Generationen alles vergiftet ist.
30. Das Mißtrauen. Wenn man auf die Ängste der Bürger nicht hört, entstehen Spaltungen auch innerhalb der Familien. Das ist eine Vorbereitung zum Bürgerkrieg. 31. Die Wiederaufbereitung
Dieses Summasummarum ergibt gigantische Verlustzahlen. So gigantisch, Trillionen, daß es abstrakt wird. Keine Privatwirtschaft investiert mehr in Kernenergie. Nur das gehorsame Volk läßt man bezahlen. Hätte man diese Verlustzahlen beizeiten in die Erforschung der Sonnenenergie in all ihren vielfältigen Formen investiert, so hätte man jetzt keine Probleme. Dabei kann man durch bessere Nutzung der vorhandenen Energie und durch Einsparung den Wohlstand und die Lebensqualität vervielfachen.
Ich bin nicht der einzige, der solche Dinge sagt. Ich stehe am Ende einer unendlich langen Liste von Nobelpreisträgern, Kapazitäten der Wissenschaft, der Kultur, der Wirtschaft und aus allen Gebieten menschlichen Wissens, die dasselbe sagen, in anderen Worten. Eine echte Avantgarde. Und Millionen Menschen, eine unglaubliche Bewegung von positiven, lebensfrohen Menschen – insbesondere die Jugend ist dabei – wollen von sich aus forschen, experimentieren, aus eigenen Mitteln, aus eigener Kraft, um eine bessere Zukunft für uns alle zu schaffen. Wieso steht der Staat nicht hinter ihnen, sondern auf der Seite der Zerstörer?
Als Vertreter österreichischer Kultur habe ich die Pflicht zu warnen und zu verhindern, daß Österreich, im Zentralraum europäischer Kultur gelegen, mitschuldig an einer gefährlichen Entwicklung wird, die aus engstirniger Dummheit und eines falschen Vorteils wegen die Auslöschung unserer Zivilisation und des Lebens, so wie wir es kennen, zur Folge haben könnte.
Das Atomkraftwerk ist ein Dolchstoß in das Herz Österreichs, denn Zwentendorf im Tullnerfeld liegt genau dort, wo Österreichs Wiege stand, genau dort, wo vor mehr als 1000 Jahren die winzige Ostmark, das kleine Land der Ostarrichi, in der Landschaft der Nibelungen geboren wurde. Es scheint, als wolle man Österreich genau dort umbringen, wo es auf die Welt kam. Es ist die Aufgabe und die Pflicht der kleinen, jedoch geistig großen und freien Nation Österreich, den umliegenden Ländern und der Welt ein Beispiel zu geben, daß man wahren Fortschritt erzielen kann, ohne unser aller Zukunft aufs Spiel zu setzen. Aufgabe Österreichs ist es, moralische und kulturelle Weltmacht zu sein. Österreichs Anti-Atomhaltung hat Symbolwert für die ganze Welt.
Je mehr Zeit vergeht, umso besser erkennen wir die Tragweite der Gefahren dieses gefährlichen Tuns; neue, unvorhergesehene Probleme werden immer teurere und gefährlichere »Gegengifte« erforderlich machen. Die Erfahrungswerte sind heute noch zu gering, um dieses Tun in seiner ganzen Tragweite zu erkennen. Es wäre unverantwortlich zu ignorieren, daß uns Techniker, Wissenschaftler und Spezialisten in eine unüberschaubare Problemwelt führen, die sie selbst nicht mehr bewältigen können.
Österreich hat es nicht nötig, sich dem Gutdünken einer Handvoll Wissenschaftler auszuliefern, die fortschrittsverblendet an den Schaltstellen der atomaren Macht sitzen wollen. Polizeistaatliche Sicherheitsmaßnahmen würden ein Ende des bisherigen tolerant menschlichen Österreich und eine Gefahr für die Demokratie bedeuten und uns teuer zu stehen kommen. Mit Hilfe einer zentral gelenkten Energie wird eine erhöhte Automatisation den Menschen noch mehr überflüssig machen. Arbeitslosigkeit, permanente Todesgefahr, schleichende Seuchen, Verlust der Menschenwürde, Verlust der Heimat wiegen mehr als ein Prozent gefährlicher Energie, mit der noch mehr Maschinen gespeist werden, die auf die Zerstörung der Natur und des Menschen getrimmt sind.
Es ist dringend, daß die geistige Elite Österreichs ihre Stimme erhebt und Stellung bezieht für ein kernkraftfreies Österreich. Die kulturelle und denkende und schöpferische Elite Österreichs darf nicht ständig gefährliche Machinationen erdulden und Werkzeug sein und schweigen. Sie muß, ganz im Gegenteil, gemäß ihrem Gewissen Verantwortung übernehmen und Leitinstanz sein und warnen und weitblickend Übles für unser Land verhindern. Ich veröffentliche ein Weißbuch mit dem Titel »Kultur gegen Kernkraft«, in dem bedeutende Österreicher Stellung nehmen.
Auch die Kernenergie, diese allerletzte Verirrung in der Menschheitsgeschichte war nur möglich, weil man nur das scheinbar Rationelle im Auge hatte. Es fehlen die moralisch ästhetischen Werte und das Bindeglied zwischen dem Menschen und der Kreation, das die Kunst vertritt. Ohne Kunst, ohne das Schöpferische, geht nichts.
Geschrieben am 7. November 1980 in Wien.
Publiziert in:
protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst. hrg. von Otto Breicha. Jugend und Volk: Wien/München 3/1981, S. 242-250 (Abdruck der gesamten Staatspreisrede „Die Welt hat sich nicht gebessert“)
Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser - Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 148-153 und Ausgabe 2004 (München, Langen Müller Verlag), S. 188-193
Katalog zur Ausstellung Hundertwasser „Peintures Récentes“, Artcurial, Paris 1982, S. 7-8 (französisch, gekürzte Version, Titel: Sur l’energie)
Hundertwasser. Parkstone Press International: New York,2008, S. 203-207