KONKRETE UTOPIEN FÜR DIE GRÜNE STADT

Friedensreich Hundertwasser

Wir leben in einer großen Zeit des Umbruches, in einer Zeit der Wende.
Die Ära des absoluten Rationalismus geht zu Ende.

Die sogenannten Verantwortlichen wissen nicht mehr, was sie tun. Plötzlich wird Anklage erhoben gegen Berufsstände, die in gutem Glauben weiter tun, was bisher scheinbar richtig war. Doch plötzlich sind sie alle schuldig und verlieren die Verantwortung ihres Tuns.
Die Ärzte, Bauern, Politiker, Priester, Ökonomen, Lehrer, Wissenschaftler, Planer, Architekten und auch Künstler. Plötzlich befinden sich alle und auch wir alle auf der Anklagebank, ganz ähnlich wie die geschlagenen Machthaber beim Nürnberger Prozeß. Es ist da ein mächtiger Ankläger. Für jeden sichtbar, für jeden präsent, jedoch total unterschätzt. Weil man der irrigen Meinung war, wehrlose Opfer vor sich zu haben, so etwas wie Freiwild oder rechtlose Sklaven, mit denen man straflos tun kann, was man will, z.B. einsperren, foltern, ausrotten bis zum Letzten der Spezies, vergiften, genetisch verändern.

Es ist die Natur, die uns richtet - die Anklageschrift ist ungeheuerlich. Von Trockenlegung der Sümpfe, Begradigung der Flüsse, Zerstörung der Aulandschaft über Monokulturen, Energieverschwendung bis zur Impotenz, selbst schöpferisch tätig zu sein, würden Tausende Aktenbündel nicht ausreichen, diese Anklageschrift unterzubringen.

Dazu nur einige Beispiele:
Der Bauer vergewaltigt systematisch unsere Überlebensgrundlage: Er vergiftet, verwüstet und verkauft die ihm zu treuen Händen anvertraute Erde, Wald und Fluren, mit einem Agrobusinessdenken satanischen Ausmaßes.

Die Wissenschaftler und Ökonomen handeln immer noch nach dem Gesetz des Raubbaues und sägen an dem Ast, auf dem sie und wir alle sitzen, laufen dem rationellen und funktionellen Trugbild nach, nicht wissend, daß ihre Berechnungen und Erfindungen genau dorthin führen, wo sie gar nicht hin wollen.

Die zeitgenössische Kunst ist eine intellektuelle Onanie geworden, häßlich und leer, ohne Schönheit, ohne Gott, dumm und kalt und herzlos.
Der kulturpolitische Machtanspruch der heutigen avantgardistischen Mafia ist ähnlich dem Machtanspruch des Dritten Reiches, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Der bildende Künstler liefert nur mehr Belege für intellektuelle Theorien, völlig entfremdet von den schöpferischen Gesetzen der Natur und von dem, wonach der Mensch sich sehnt.

Der Architekt ist ein feiger Hampelmann skrupelloser Auftraggeber. Wie ein Kriegsverbrecher und oft gegen sein Gewissen befolgt er gehorsam Befehle und baut Konzentrationslager, in denen die Natur, das Leben und die Seele des Menschen zugrunde gehen.

Was allen Anklagen an alle Berufsstände, an alle Verantwortlichen und alle von uns gemeinsam ist, ist das Verbrechen an der Natur und das Verbrechen an der Schöpfung. Beides ist dasselbe.

Natur, Kunst, Schöpfung ist dasselbe. Wir haben sie nur auseinandergebracht. Wenn wir die Schöpfung der Natur vergewaltigen und wenn wir die Schöpfung in uns selbst vernichten, zerstören wir uns selbst. Nur die Natur kann uns Schöpfung, kann uns Kreativität lehren. Unser wahres Analphabetentum ist die Unfähigkeit, schöpferisch tätig zu sein.

Wir müssen einen Friedensvertrag mit der Natur anstreben, der einzig schöpferischen übergeordneten Macht, von der der Mensch abhängig ist. Dieser Friedensvertrag mit der Natur müßte unter anderem die folgenden Punkte beinhalten:

1. Wir müssen die Sprachen der Natur lernen, um uns mit ihr zu verständigen.
2. Wir müssen der Natur Territorien zurückgeben, die wir uns widerrechtlich angeeignet und verwüstet haben, z.B. nach dem Grundsatz: Alles, was waagerecht unter freiem Himmel ist, gehört der Natur, z.B. auch die Dächer, auch die Straßen.
3. Toleranz der Spontanvegetation.
4. Die Schöpfung des Menschen und die Schöpfung der Natur müssen wiedervereinigt werden. Die Entzweiung dieser Schöpfungen hatte katastrophale Folgen für die Natur und den Menschen.
5. Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur.
6. Wir sind nur Gast der Natur und müssen uns dementsprechend verhalten. Der Mensch ist der gefährlichste Schädling, der je die Erde verwüstet hat. Der Mensch muß sich selbst in seine ökologischen Schranken zurückverweisen, damit die Erde sich regenerieren kann.
7. Die menschliche Gesellschaft muß wieder eine abfallose Gesellschaft werden. Denn nur der, der seinen eigenen Abfall ehrt und wiederverwertet in einer abfallosen Gesellschaft, wandelt Tod in Leben um und hat das Recht, auf dieser Erde fortzubestehen. Dadurch, daß er den Kreislauf respektiert und die Wiedergeburt des Lebens geschehen läßt.

Es gibt keine Energiekrise. Es gibt nur eine maßlose Energieverschwendung. Hat die Natur eine Energiekrise? Haben die Vögel, die Bäume, die Käfer eine Energiekrise? Nur der Mensch bildet sich ein, eine Energiekrise zu haben, weil er wahnsinnig geworden ist. Der immense, unbegründete Energieverbrauch des Menschen müsste einer dementsprechenden immens gesteigerten, verantwortungsbewußten und schöpferischen Intelligenz entsprechen. Dem ist aber nicht so. Der Mensch ist ein dummes Herdentier geblieben, das plötzlich irrsinnige Mengen von Energie, von Giften und anderen Mordmitteln zur Verfügung hat, die es wild verpulvert oder rücksichtslos zur Vernichtung der Umwelt und der eigenen Brüder einsetzt.
Und gierig verlangt dieser Mensch, dieses dumme Herdentier, nach noch mehr Energie, noch mehr Giften und noch mehr Mordmitteln. Oder aber, der Verbrauch dieser Energien und Gifte wird von den Verantwortlichen und den Medien weiter straflos angepriesen.

In der Datenverarbeitung unserer Computer müßten alle ökologischen Daten eingespeichert und zu allererst in Betracht gezogen werden. So kann man auch mit modernen Mitteln, mit Computern in Sachen Architektur, Stadtplanung, Ökonomie, Verkehr, Energie, Landwirtschaft berechnen, was billig und was teuer, was zielführend und was schädlich ist, und zwar in seinem übergeordneten Zusammenhang. Das Inbetrachtziehen aller verfügbaren, auch ökologischen und sonstigen Daten muß Vorbedingung für alle Berechnungen sein.
Was nützt z.B. ein billiges Haus, das uns teuer zu stehen kommt, weil die Planer und Architekten nur den Preis von Baumaterial, Grundstückpreis und Arbeitslöhne addiert und berechnet haben.

Nicht auf die Rechnung wurden aber die anderen Faktoren gesetzt, obwohl sie sich auch sehr wohl berechnen lassen: vermehrte Ausgaben für Heizung und Kühlung, Staub- und Lärmbeseitigung, giftige Luft allein durch die Nicht-Miteinplanung z.B. eines Grasdaches.

Galoppierende Kosten, verursacht durch Vandalismus, Kriminalität, Unzufriedenheit, Neurosen, Arbeitsausfall, Spitalkosten, Stadtflucht, Verletzung der Selbstachtung und der Menschenwürde, Knebelung der Kreativität jedes einzelnen. Alles hervorgerufen durch Fehlplanung und Außerachtlassung der ökologischen und kreativen Komponente in ihrer vielfältigen Wechselwirkung und komplexen Gesamtheit. Diese Rechnung wird todsicher, nur etwas später präsentiert, wobei die Planer bisher leichtes Spiel hatten, die Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen, kurzum ihre Verantwortung abzuleugnen.

Die blinde, feige und stupide Anwendung der geometrisch geraden Linie hat unsere Städte zu Wüsten gemacht, sowohl im ästhetischen, seelischen als auch im ökologischen Sinn.
Unsere Städte sind zu Beton geworden Schnapsideen von verbrecherischen Architekten, für die der Eid des Hippokrates nicht gilt, der da heißen soll: Ich weigere mich, Häuser zu bauen, wodurch Natur und Mensch zu Schaden kommen. Zwei Generationen von Architekten mit Bauhausmentalität haben unsere Wohnwelt zerstört, die Häuser gebaut mit Bauhausmentalität. Die Bauhausmentalität kann man etwa so beschreiben: gefühls- und emotionslos, diktatorisch, herzlos, aggressiv, glatt, steril, schmucklos, kalt und unromantisch, anonym und gähnende Leere. Ein Trugbild der Funktionalität.

Der widernatürliche Abbruch der Bautätigkeit vor Einzug des Bewohners ist als kriminelle Sterilisierung des Wachstums der dritten Haut, d.h. der Wohnhülle zu betrachten und zu ahnden.

Nur ein Haus, das nach Einzug der Bewohner organisch wächst und sich durch die stetigen Veränderungen der Bewohner immerwährend wandelt, ist die Alternative zu den Konzentrationslagern, in denen wir rechtlos über- und nebeneinandergestapelt in identischen Zellen hausen. Das Fensterrecht jedes einzelnen muß effektiv werden, das z.B. besagt:
Jeder muß das Recht haben, sich aus seinem Fenster zu lehnen und seine dritte Haut, seine Außenmauer, umgestalten dürfen, so weit sein Arm reicht, damit man von weitem von der Straße sehen kann: Dort wohnt ein Mensch.

Ferner brauchen wir dringend einen neuen Berufsstand in der Architektur: den Architektur-Doktor. Ein Architektur-Doktor ist ein Mann, der kranke Häuser heilt, insbesondere solche, die mit Bauhausmentalität nach dem letzten Krieg errichtet worden sind.

Wir müssen die Häuser selbst heilen, dann brauchen wir weniger Krankenhäuser, denn in den Häusern, die uns da hingebaut wurden, werden wir Menschen krank. In den Kliniken und Krankenhäusern jedoch können die Menschen nicht gesund werden, weil die Krankenhäuser selbst krank sind.

Arzneien gegen all diese massenhaft herumstehenden sterilen und kranken Architekturen gibt es schon viele.
z.B. Grasdächer
Bewaldung der Dächer
Kletterpflanzen
Baummieter
Fensterrecht der Bewohner
Verungradigung der Skyline und der geraden Kanten
Fenster aus der Reihe tanzen lassen
Anbringen von Türmen und Erkern.

Ich möchte nicht verschweigen, daß ich selbst als Architektur-Doktor tätig bin an etwa zehn Objekten. Es gibt kein noch so krankes Haus, das man nicht gesund machen kann, und zwar für jeden Geldbetrag, auch wenn nur 1 DM dafür vorhanden ist.

Ein gutes Haus muß zwei Dinge verwirklicht haben und in sich vereinen: Harmonie mit der Natur und Harmonie mit der individuellen menschlichen Kreation. Zu lange haben wir uns die Erde untertan gemacht mit den katastrophalen Auswirkungen, die wir alle kennen. Jetzt ist es höchste Zeit, daß wir einmal das Gegenteil tun, daß wir uns unter die Erde begeben. Daß wir Erde über uns haben, bedeutet keineswegs in finsteren Höhlen oder feuchten Kellern zu hausen, ganz im Gegenteil. Erde und Wald über dem Kopf und Licht kann man gleichzeitig haben.

Wenn wir uns unter die Natur begeben müssen, dann bedeutet das symbolisch und auch praktisch, daß wir wieder in Häusern leben müssen, wo die Natur über uns ist, denn es ist unsere Pflicht, die Natur, die wir dadurch umbringen, daß wir ein Haus bauen, wieder auf das Dach zu bringen. Die Natur, die wir auf dem Dach haben, ist dieses Stück Erde, das wir umgebracht haben, dadurch, daß wir das Haus dahin gestellt haben.

Wozu haben wir all die neuen Materialien, wenn wir sie nicht verwenden, um die Natur in die Stadt zurückzubringen? Wir haben Zement, Beton, Plastik, Bitumen, synthetischen Gummi, rostfreien Stahl, Blähton und auch Mischungen aus diesen Materialien sowie die alten Materialien Teer, Ziegel, Holz, Kautschuk und so weiter.

Es sollte eine Herausforderung an jeden Architekten sein, nicht nur dem Menschen, sondern insbesondere auch der wildwachsenden Spontanvegetation im Stadtzentrum eine Heimstatt zu bauen.

Wir brauchen Schönheitsbarrieren, damit die Welt wieder größer wird. Doch anstatt dessen machen wir alles hin an dem Ort, wo wir sind, und machen auch alles hin, wo noch unberührte Natur ist, und um dahin zu gelangen, bauen wir häßliche Straßen, damit auch dazwischen alles hin ist. So wird die Welt überall klein und häßlich.

Was wir jedoch dringend benötigen, sind Schönheitshindernisse. Diese Schönheitshindernisse bestehen aus nichtreglementierten Unregelmäßigkeiten. Und diese nichtreglementierten Unregelmäßigkeiten bestehen entweder aus Spontanvegetation oder aus der Kreativität des einzelnen. Beides sind Schöpfungen, die sich gegenseitig ergänzen.

Wenn der einzelne in seinem Bereich sein Fensterrecht wahrnimmt und seine Umwelt gestaltet, beziehungsweise wenn jeder einzelne in einem Bereich der Spontanvegetation eine Chance gibt, so braucht man nicht lange zu reisen, um ins nächste Königreich zu kommen, denn das Paradies ist gleich beim Nachbarn um die Ecke oder dort, wo man selber ist. Paradiese kann man nicht suchen und finden, Paradiese kann man nicht beschlagnahmen und nicht von der Obrigkeit herstellen lassen.

Paradiese kann man nur selber machen, mit eigener Kreativität, in Harmonie mit der freien Kreativität der Natur.

 

Verfasst anlässlich eines Symposiums der IGA (Internationale Gartenbauausstellung) am 27. Juli 1983.

Publiziert in:

Das Hundertwasser Haus. Wien: Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag 1985, S. 67-69

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Köln: Taschen 1996, S. 68-70 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 54-56

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser - Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Langen Müller Verlag 2004, S. 273-278

Ausstellungskatalog: Hundertwasser - Kunst - Mensch - Natur. Minoritenkloster, Tulln, 2004, S. 114-115 (Auszug)

Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 155 - 160

natur aktiv, Nr. 1, 2010, Salzburg, S. 2 (Auszug, Friedensvertrag)

Regentag-Wassergläser für das Leben, Rutesheim: Bernd Wörner Druckerei und Verlag 2011, S. 69 (Auszug, Friedensvertrag)

KunstHaus Abensberg, Abensberg, 2014, S. 107 (Auszug, Friedensvertrag)

Hundertwasser Lebenslinien, Osthaus Museum, Hagen, 2015, S. 89-92

Wiesauer, Caro: 100 x Hundertwasser, Wien: Metroverlag 2016, S. 116-117 (Auszug, Friedensvertrag)

Hundertwasser The Green City, Katalog zur Ausstellung, Sejong Museum of Art, Seoul, 2016, S. 206-207, Auszug, Friedensvertrag (Englisch/Koreanisch)

Schlange, Edeltraut: Geschichten und Geschichte an der Mulde mit den Flussperlmuscheln Milda und Mulda, Leipzig: Engelsdorfer Verlag 2019, S. 56 (Auszug, Friedensvertrag)