ZWISCHEN HJ UND JUDENSTERN

Friedensreich Hundertwasser

Mein Vater starb, als ich ein Jahr alt war, vermutlich an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Er ist mir nur als Fotografie präsent. Meine Mutter hat nie besonders viel und wenn, dann nicht besonders gut von ihm gesprochen. Sie war ihm wohl in allem überlegen, und daher lastete, auch als er noch da war, alles auf ihren Schultern. Mein Vater war in den späten zwanziger Jahren einer von Hunderttausenden Arbeitslosen, meine Mutter hat als Angestellte der Creditanstalt das Geld beschafft, von dem wir recht und schlecht leben konnten.


Zunächst in einer Gemeindewohnung in der Johnstraße in Wien-Fünfhaus, nicht weit von Schönbrunn. Doch zwischen der imperialen Pracht des Schlosses und unserer kleinen Wohnung lagen Welten. Wir waren arm, es gab nur eine Kochnische, was meine Mutter sehr geärgert hat. Auch unsere zweite Wohnung in der nahen Brunhildengasse bot nicht viel mehr.


Wer hätte gedacht, daß diese Unterkünfte luxuriös waren gegen das, was uns in den folgenden Jahren erwartete? Nachdem wir die Worte des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg - „Gott schütze Österreich“ - am 11. März 1938 im Radio gehört hatten, sagte meine Mutter zu mir, es kämen jetzt schlechte Zeiten auf uns zu. Den Grund dafür sollte ich erst viel später verstehen. Meine Mutter war Jüdin. Während des Einmarsches der Hitler-Truppen blieben wir zu Hause. Als wir uns wieder auf die Straße wagten, hatten auch wir Hakenkreuze angesteckt, denn jeder, der dies nicht tat, war suspekt und lief Gefahr, angepöbelt zu werden. Es war ein ganz einfacher, primitiver Schutz: Eine kleine Stecknadel am Hemd oder an der Bluse, und schon wurde man in Ruhe gelassen. Keiner von uns war ein Held. Es gab nur zwei Möglichkeiten: angerempelt werden, Faust aufs Aug’, blutige Nase - oder ein Hakenkreuz am Revers. Wir entschieden uns für letzteres.


Was nichts daran änderte, daß wir nach einigen Monaten unsere Wohnung verlassen mußten. Der Bezirk Leopoldstadt war zum jüdischen Ghetto erklärt worden, und hier wies man uns eine Wohnung zu. Doch da blieben wir nur ein paar Stunden. Denn während meine Mutter damit beschäftigt war, Möbel, Geschirr und Wäsche auszupacken, malte ein Antisemit die Buchstaben „Grünspan“ an unsere Eingangstür. Herschel Grünspan, ein polnischer Jude, dessen Eltern von den Nazis deportiert worden waren, hatte kurz zuvor ein Attentat auf den in Paris akkreditierten deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath verübt, worauf sich die Nazis mit der sogenannten Reichskristallnacht an den Juden revanchierten. Jetzt nannte man uns „Grünspan“.


Als nun unser Hausmeister in der Leopoldstadt von meiner Mutter verlangte, sie müsse die „Grünspan“-Bemalung auf eigene Kosten entfernen lassen, regte sie sich so auf, daß sie beschloß, die Wohnung sofort wieder zu verlassen. Ich kam gerade von einer Ausfahrt mit meinem Tretroller nach Hause und wurde von der Nachricht des neuerlich bevorstehenden Umzugs überrascht. Diesmal ging’s in eine Wohnung in der Oberen Donaustraße, in der meine Großmutter und meine Tante Ida lebten. In einem kleinen Zimmer dieser Wohnung verbrachten wir den ganzen Krieg.


Ich war Halbjude und Mitglied der Hitler-Jugend. Und das ist nicht so paradox gewesen, wie es heute klingen mag. Es war eine Überlebensnotwendigkeit. Als die Schikanen 1942 unerträglich zu werden begannen - man hörte von den ersten Lagerverschickungen, Juden mußten sich Sara und Israel nennen -, kam meiner Verwandtschaft die Idee, ich sollte zum Schutz der Familie der HJ beitreten, was ich auch tat. Ich trug, wenn es nötig war, das Hakenkreuzzeichen, eine Binde und die HJ-Kappe.


Tatsächlich kamen mehrmals uniformierte SS-Leute, gegen zwei Uhr früh, zu uns nach Hause. Sie läuteten Sturm, verlangten, daß alle Juden die Wohnung räumen mußten, in einer Stunde würden wir geholt. Immer wenn es nachts läutete, legte ich in Blitzeseile Hakenkreuz, Binde und Kapperl an und öffnete den furchterregenden SS-Männern die Tür. Dabei hielt ich ihnen eine Schachtel mit den Tapferkeitsmedaillen meines Vaters und dem Eisernen Kreuz meines Onkels aus dem Ersten Weltkrieg entgegen. Überraschenderweise beeindruckte sie das irgendwie, und man ließ uns wieder für einige Zeit in Ruhe. Monate später wiederholte sich die Prozedur: Sturmläuten, uniformierte SS, Vaters Weltkriegsorden, die Männer gehen wieder weg. Auf diese Weise konnte ich die Deportation meiner Großmutter und meiner Tante um ein Jahr verzögern.


Beim drittenmal kamen keine SS-Leute, sondern jüdische Vertrauensleute, die - um selbst zu überleben - andere Juden zum Abtransport holten. Nun wurden sowohl meine Tante als auch meine Großmutter verschleppt. Beide starben im Konzentrationslager. Wie übrigens mehr als achtzig weitere Verwandte, Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, Cousins und Cousinen - meine Mutter hat darüber einmal eine Liste angefertigt - Opfer der Naziherrschaft wurden. Meine Tante Gisela aus Berlin und ihre Tochter, meine Mutter und ich waren die einzigen Überlebenden der einst riesigen Familie. Wir verdankten das Überleben dem Umstand, daß in erster Linie Volljuden verschickt wurden. Ich war geschützt, weil ich Halbjude war, und meine volljüdische Mutter war geschützt, weil sie einen halbjüdischen Sohn hatte. Der Halbjude konnte die Ganzjüdin schützen.


Die Perversion des Ganzen wurde mir erst viel später bewußt. Während meine Mutter mit dem Judenstern einkaufen ging, lief ich mit dem Hakenkreuz durch die Gegend. Aber wenn der Normalzustand zur Perversion wird, ist das Perverse normal. Ich kannte Juden, die der Meinung waren, wenn sie für Hitler kämpfen, brav für ihn arbeiten, würde er ihnen nichts tun. So mancher „Nichtarier“ sagte: Der Hitler ist ein braver Mensch, er will nur, daß wir für ihn arbeiten. Ich erinnere mich an die uns benachbarte jüdische Familie Blau in der Oberen Donaustraße. Da hieß es: Der Hitler will uns nichts tun, er will nur, daß wir aufrecht und ehrlich sind. Sie fühlten sich als gute Deutsche und konnten nicht verstehen, daß sie aus religiösen, rassischen oder irgendwelchen anderen Gründen abgelehnt würden. Es gab auch Juden, die der Naziparole recht gaben, die Juden seien an allem schuld. Selbst meine Mutter war der Meinung, daß die polnischen Juden am Antisemitismus schuld seien.


Wir dachten auch, daß meine Großmutter und meine Tante, als man sie abholte, „nur“ in ein Arbeitslager kämen. Es gab zwar Gerüchte, die Schlimmeres besagten, aber keiner konnte glauben, daß ein Regime die Bewohner des eigenen Landes umbringt. Man klammerte sich an die Hoffnung, daß an dem Gerücht nichts dran sei. Bis zum Schluß haben wir nicht an das Schlimmste geglaubt.


Bei der HJ wußten sie nicht, daß dieses Kürzel für mich nicht nur Hitler-Jugend, sondern auch Halbjude bedeutete. Wie durch ein Wunder kam das bei dieser Organisation nie heraus, wobei mir natürlich der arische Name Stowasser meines Vaters half. Wir von der HJ trafen uns regelmäßig, sangen Hitler-Lieder, marschierten in den Prater, wo auch einmal ein militärischer Angriff simuliert wurde.


Als es in den letzten Kriegstagen hieß, wir sollten uns zu einer Waffengattung melden, entschied ich mich für den Funkdienst, der mir am wenigsten gefährlich schien. Nachdem ich die Funkerprüfung abgelegt hatte, läutete es an unserer Tür, ein paar Kollegen von der HJ wollten mich abholen, um mit mir in den Krieg zu ziehen. Die Russen waren zu diesem Zeitpunkt bereits bis ins Burgenland vorgedrungen. In einem Anflug von Wahnsinn, der sich aber als Gescheitheit erweisen sollte, erklärte ich: Ich kann nicht kommen, ich bin ein Halbjude. Die HJ-Kollegen gingen erschrocken weg, ohne die Affäre im allgemeinen Kriegschaos weiterzuleiten. Mir hat das „ Geständnis“, Halbjude zu sein, das Leben gerettet. Ich sah, als in Wien schon geschossen wurde, vor unserer Haustür einen Trupp meiner HJ-Freunde, die wie ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt waren, mit Panzerfäusten über der Schulter Richtung Stephansdom marschieren. Und keiner von ihnen ist lebend zurückgekehrt.


Die erste Volksschulklasse hatte ich 1935 in der kurz zuvor gegründeten Montessori-Schule besucht, die für ihre liberalen Lehrmethoden bekannt war. Jedes Kind durfte tun und lassen, was es wollte, ich habe sofort gemalt, wofür in meinem Zeugnis „außergewöhnliches Farben- und Formengefühl“ attestiert wurde. Dafür konnte ich nach einem Jahr noch immer nicht drei und drei zusammenzählen. Das und die Tatsache, daß die Montessori-Schule zu teuer war, bewog meine Mutter, mich in eine öffentliche Volksschule zu schicken. Die anschließend besuchte Realschule mußte ich nach fünf Jahren „aus rassischen Gründen“ verlassen, worauf ich eine Handelsschule besuchte und die Matura nach dem Krieg nachholte.


Noch in der Schuschnigg-Zeit hatte mich meine Mutter „sicherheitshalber“ taufen lassen. Und in einer katholischen Kirche im 15. Bezirk sah ich dann auch ein Madonnenbild, das in mir den Wunsch weckte, Maler zu werden. Wichtig für diesen Entschluß waren auch die Blumen, die ich im Wienerwald pflückte, um sie dann zwischen die Seiten eines Buches zu pressen. Wir haben darüber diskutiert, wie man verhindern könne, daß die Farben verblassen. Da sagte ich mir, wenn du das malst, statt es zu pressen, bleiben die Farben erhalten. Einen weiteren Anstoß bot mir meine Briefmarkensammlung, ich wollte selbst einmal so schöne kleine Bilder malen können. 1943 habe ich meine ersten Zeichnungen bewußt angefertigt.


Ich stand oft stundenlang vor der Auslage einer Rahmenhandlung in der Wallensteinstraße, wo Aquarelle zu sehen waren, die mich begeisterten. Jeder Tupfen, jeder Strich faszinierte mich. Natürlich waren die Bilder brav, bieder und anständig, ganz wie es die Zeit verlangte. Auch ich malte meine ersten Aquarelle ganz in diesem Stil, der dem der Hitler-Postkarten ähnelte, und war immer sehr glücklich, wenn es mir gelang, etwas so zu zeichnen, daß man es erkennen konnte. Blumen, Landschaften, Häuser und Stilleben waren meine liebsten Motive.


In einem kleinen Koffer, den ich immer bei mir trug, hatte ich ein sorgsam eingerolltes, von mir gemaltes Aquarell mit, um - im Fall des Falles - beweisen zu können, daß ich Maler bin.


Auch den Donaukanal habe ich mehrmals gemalt, und nicht nur das, ich habe ihn immer wieder schwimmend überquert, um mich vor mir selbst zu beweisen. Infolge meiner Schwimmtouren erkrankte ich kurz nach Kriegsende, vermutlich durch eine kleine Hautverletzung, an Paratyphus. Bald war ich so schwach, daß ich nicht mehr gehen konnte, und ich sehe heute noch vor mir, wie mich zwei Männer auf einem Brett durch das zerbombte Wien trugen, bis wir im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in der Praterstraße ankamen. Bald gesellte sich zum Paratyphus ein Herzklappenfehler. Auf 48 Kilo abgemagert, sah ich aus wie die von Auschwitz Heimgekehrten, und ich fühlte mich dem Tode nahe. Ich hatte den Krieg überlebt - und jetzt, da alles vorbei war, sollte ich sterben. Aber ich überstand die Krankheit. Und kaum ging es mir etwas besser, zeichnete ich auch schon wieder. Eine Blumenvase in meinem Krankenzimmer, einen Teekessel auf dem Tisch und den Blick aus dem Fenster. Und ich porträtierte meine Mutter, die mich täglich besuchte.


Ein Jahr später war ich, weil ganz Wien hungerte, in Wulfing bei Schwanenstadt bei Bauern zum Erntedienst eingeteilt. Ich bekam zu essen und arbeitete hart. Aber ich fühlte mich wie im Paradies und erlebte auf den Feldern zum erstenmal in meinem Leben bewußt die Farben der Natur. Hier entwickelte sich in mir der Wandel vom realistischen zum freien Malen. Viel später erst lernte ich die Modernen - Picasso, Klee, Schiele, Klimt - kennen. Wer in der Nazizeit aufgewachsen ist, hatte von ihrer Existenz nie erfahren.


Ab 1949 war ich ständig unterwegs. Es trieb mich hinaus, in die Toskana, nach Paris - alles per Autostopp. Auf so einer Fahrt versuchte mich im Jahre 1953 ein Russe, der mich in seinem Dienstwagen mitnahm, als Agent für den KGB anzuwerben. Er gab mir 150 Schilling, mit denen ich Stadtpläne von Wien und Paris besorgen sollte. Ich sagte ihm, bei „Freytag und Berndt“ am Kohlmarkt könnte jeder Mensch all diese Stadtpläne kaufen. Er wollte mit diesem „Auftrag“ offensichtlich testen, ob ich als Spion geeignet war. Ich erwies mich als ungeeignet. Die 150 Schilling, die er mir gegeben hatte, behielt ich allerdings.


Wie seinerzeit die Nazis, kamen jetzt die Russen einmal in der Woche, wieder zwischen zwei und drei Uhr nachts, und läuteten Sturm. Meine arme Mutter stand wieder die schlimmsten Ängste aus. Ich wagte mich erst wieder nach 1955, als der Staatsvertrag unterzeichnet war und die Russen Wien verlassen hatten, nach Hause.


Sicher steht der Weg, den ich als Künstler ging, in ursächlichem Zusammenhang mit der Situation, in der ich aufgewachsen bin. Meine Jugend als doppelter Außenseiter - ohne Vater und als Halbjude - hat natürlich dazu beigetragen, daß ich viel nachgedacht und mich besonnen habe. Ich wurde zum Einzelgänger, zum Kämpfer für bestimmte Anliegen, die mir wichtig erschienen. In meiner Kindheit hatte ich keine Gelegenheit, mich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, und so blieb ich Einzelkämpfer.


Meine Mutter starb 1972, sie hat noch einige meiner Erfolge miterlebt, zuletzt den Film „Hundertwassers Regentag“, den Peter Schamoni über mich drehte, worauf sie sehr stolz war. Sie hat sich vor der Urania als normale Kinobesucherin angestellt, um sich eine Karte zu kaufen, was ich sehr rührend fand.


Für meine Generation, die damals jung war, gab es nichts anderes als Krieg, wir kannten keinen Frieden. Der alltägliche Schrecken war eine Selbstverständlichkeit, anders konnte der Alltag in unseren Augen gar nicht sein, so war das Leben. Tägliches Sterben war völlig normal. In meinem Hirn als Zehn- bis Vierzehnjähriger war das ganze Kriegsgeschehen so selbstverständlich wie für einen heutigen Jugendlichen das Auto und die Straßenbahn.


Jeder weiß mittlerweile, daß Hitler ein wahnsinniger Teufel war, doch ich glaube nicht, daß ich damals die Fähigkeit hatte, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Ich empfand den Krieg zwar als etwas Außerordentliches, aber nicht als etwas Unrechtes. Viele Leute meines Alters dichten heute in ihre Kriegserlebnisse Dinge hinein, die nicht sein können. Wer damals zehn, zwölf Jahre alt war und heute sagt, er hätte erkannt, daß der Hitler und sein Regime unmenschlich waren, der lügt.


Mir hat genauso wie den anderen jungen Burschen die deutsche Wehrmacht imponiert. Mich interessierten die Grenzverschiebungen, die ich mit bunten Nadeln in beide Richtungen - zuerst den Vormarsch, dann den Rückzug - absteckte. Was da passierte, das war für einen jungen Menschen ein großes Abenteuer, ein Räuber-und-Gendarm-Spiel.


Aber irgendwie fühlte ich doch, daß einmal andere Zeiten kommen würden. Denn als ein Freund von mir, er hieß Leopold und wohnte bei uns im Haus in der Oberen Donaustraße, zu mir sagte, der einzelne Mensch sei nur ein Spielball der Mächtigen, da habe ich ihm widersprochen. Ich werde dir beweisen, sagte ich, daß sich auch der einzelne Mensch zur Wehr setzen kann.


Ich war damals, mit meinen dreizehn Jahren, felsenfest davon überzeugt, daß ich eines Tages etwas tun, daß ich etwas bewegen werde können.

 

Text basierend auf einem Interview, das Georg Markus mit Hundertwasser im Jahr 1990 führte.

Publiziert in:

Markus, Georg (Hg.), Mein Elternhaus – Ein österreichisches Familienalbum, Düsseldorf, Wien, New York: Econ Verlag 1990

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Langen Müller 2004, S. 49-55 

Der unbekannte Hundertwasser. Katalog zur Ausstellung im KunstHausWien. München: Prestel Verlag 2008, S. 253-256