AUSSTELLUNGSTEXT ART CLUB

Friedensreich Hundertwasser

Wir sind nicht mehr fähig, Gleichnisse zum Leben zu schaffen. Wir sind nicht mehr fähig, zu gestalten, die Ereignisse um uns und in uns zu deuten, ja nicht einmal zu erkennen. Dadurch haben wir aufgehört Ebenbilder Gottes zu sein, und unser Dasein besteht zu Unrecht. Wir sind eigentlich tot. Wir leben nicht mehr kraft unser selbst. Wir zehren an längst verwesten Erkenntnissen. Wir zertreten das letzte sich aufbäumende wahre, ursprüngliche und mannigfaltige Leben in unseren Kindern und in uns selbst erst durch das Gift unseres Erziehungssystems, dann durch Gleichschaltung. Unser Erziehungssystem ist planmäßige Abtötung.

Wir sind in eine graue Menschenmarschkolonne hineingeboren, die dem Farblosen, Nichtssagenden, Kollektiven zustrebt. Diese Menschenmarschkolonne heißt Europa. Die Menschen der neuen Gestaltungsweise haben dank ihrer ihnen noch verbliebenen oder wiedergewonnenen Sensibilität diesen Irrweg erkannt und weigern sich, trotz Nachdruck der Masse, ihn weiter zu beschreiten.

Die, die heute wahrhaft tätig sein und sich entfalten wollen, sehen sich gezwungen, erst den Morast zu beseitigen, den wir auf sie aufgetürmt haben, den Morast, dessen Hintertücke die gegenwärtig noch andauernde Wirrnis in der Modernen Kunst beweist, der es trotz fünfzigjährigem Ringen noch immer nicht gelungen ist, ihn ganz abzuschütteln.

Doch die Sprache dieser neuen Kunst wird stetig klarer. Einigen Transautomatisten gelingt bereits das Wunder einer neuen, von unserer europäischen Bluffzivilisation nicht mehr verhinderten Gestaltung. Der Kunst fallen mehr und mehr gewisse Aufgaben zu, die bisher teils Wissenschaft, teils Religion erfüllen zu können vorgaben, die nun aber eindeutig deren Zuständigkeit übersteigen.

Es handelt sich um die Sichtbarmachung und Weitervermittlung von unendlichen Realitäten, zu deren Definition und Erfassung sowohl unsere grobe Sprache, wie auch unsere mathematischen Zahlenwerkzeuge, die Noten unseres Oktavensystems, Mikroskopie, Photographie und Gottbegriffe unserer Religionen sich als ungeeignet erwiesen haben. Die Moderne Kunst nach 1950 wagt es, uns mehr Klarheit als die Wissenschaft und mehr Sicherheit als die Religion, beziehungsweise Geld und Waffen, zu bieten. Die Menschen, die einer All umfassenden Gestaltung zustreben, bemühen sich, jenen Vorsprung einzuholen, der uns von den neuen phänomenalen Entdeckungen trennt, die uns experimentell-unvorbereitet in die Hände gefallen sind und zu deren Nutzung uns gleichwertig phänomenale geistig-menschliche Vorbedingungen fehlen.

 

Geschrieben 1952 für die Ausstellung im Art-Club Wien, Kärntnerstraße,
10.-30. Januar 1953.

Publiziert in:

Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München 1975. Glarus/Schweiz: Gruener Janura AG 1975, S. 111-113

Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Französische Ausgabe: Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976; Montreal, Brüssel, 1978. Englische Ausgabe: Tel Aviv, Reykjavik, 1976; Cape Town, Pretoria, Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia, Caracas, 1977; Mexiko City, Toronto, 1978; Rom, Høvikodden, 1980; Helsinki, 1981; London, 1983. Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981.

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 63-64 und Ausgabe 2004 (München: Langen Müller Verlag), S. 78-79

Hirsch, Andreas (Hg.): Hundertwasser – Die Kunst des grünen Weges, Ausstellungskatalog KunstHausWien. München: Prestel Verlag 2011, S. 52 (Auszug)

Grunenberg, Christoph und Becker, Astrid (Hg.): Friedensreich Hundertwasser. Gegen den Strich. Werke 1949-1970, Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle Bremen. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2012, S. 39