SCHAFEDASEIN
Unsere Gesellschaft ist anonym. Sie ist unmenschlich und ein Nährboden für Diktatur und Tyrannei, weil jeder von sich aus leider dazu neigt, ein Hammel-, Herden- und Schafedasein zu führen und es der Obrigkeit leicht macht, uns viel besser zu erfassen.
Deswegen ist die Kreativität des einzelnen von größter Bedeutung. Gegen diese Kreativität des einzelnen ist jede Gewalt machtlos, sie hat vor ihr größere Furcht als vor der demonstrierenden Masse.
Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Angst und die Scham vor der Kreativität bedeutend größer sind, als die Scham, sich nackt auszuziehen. Also wer nackt ertappt wird, hat heute weniger Schamgefühl, als jemand der ertappt wird, kreativ zu sein. Das ist natürlich eine unglaubliche Verkehrung der menschgewollten und gottgewollten Notwendigkeit, denn ohne Kreativität des einzelnen gibt es kein Leben, kein individuelles Leben.
Jeder Mensch, der geboren wird, hat ein unglaubliches Kapital an Kreativität, jeder Mensch, der geboren wird, ist mit dem Ursprung, mit dem Kosmos verbunden.
Er ist quasi noch im Paradies. Das ist ein Garten Eden von unglaublichem Ausmaß, eine Unendlichkeit, so unendlich wie der Sternenhimmel ist. Jeder Mensch ist so verschieden von den anderen wie ein Stern vom anderen.
Soweit weg von den anderen, wie auch ein Stern vom anderen entfernt ist. Jetzt glaubt man, den Menschen gleichschalten zu müssen, um ein Gemeinschaftswesen zu erzeugen. Dabei tut man das Kind mit dem Bade ausschütten und die Leute nivellieren und zwar auch dort, wo es nicht notwendig ist.
Da verliert der Mensch seine Seele.
Auch die Wurzeln in die Vergangenheit werden ihm beschnitten und dadurch verliert er auch die Entfaltung in die Zukunft. Wenn der Mensch keine Wurzeln mehr hat, dann ist er orientierungslos, er ist dann ein Spielball der Mächte und des modernen Maschinenzeitalters.
Er wird dann zu so einer Art von Konsummaschine degradiert oder zu einem Fließbandgegenstand, der hin- und hergerückt wird. Der Mensch fühlt dann sehr wohl, daß er nutzlos ist, daß er nichts zu sagen hat, daß man ihn nicht braucht, und er vegetiert passiv dahin.
Die wirkliche Demokratisierung des Menschen bedeutet, sich jetzt kreativ weiterzuentwickeln.
Nur mit Kreativität kann sich das Menschengeschlecht vorwärtsentwickeln. Die individuelle Kreativität und die individuelle Verantwortung für alle Lebensformen, für die wahren Werte formen die Gesellschaft.
Nur muß der Mensch sich erst von der größten und perfidesten Leibeigenschaft befreien, der Abhängigkeit von den nivellierenden Mächten, die er dumm - nichtsahnend akzeptiert wie vergiftete Bonbons.
DAS WAHRE ANALPHABETENTUM HEUTE
IST NICHT DAS UNVERMÖGEN,
LESEN UND SCHREIBEN ZU KÖNNEN,
SONDERN DAS UNVERMÖGEN,
SCHÖPFERISCH TÄTIG ZU SEIN.
Nur wer schöpferisch denkt und handelt, lebt.
Wir sind eigentlich tot, weil wir nicht kreativ sind.
Verfasst 1990 für die Publikation in der Arbeiter Zeitung, Wien (dort nicht publiziert).
Publiziert in:
Hundertwasser. New York: Parkstone Press International 2008, S. 93