BRIEF AUS PARIS

Friedensreich Hundertwasser

Lieber Herr Rochowansky!

Ich befinde mich mitten in einem ungeheuren Abenteuer, und es fehlt mir absolut der nötige Abstand, um mein bisheriges und zukünftiges Wollen klar formulieren zu können. Jedoch können Sie mein Pariser Katalogvorwort meiner diesjährigen Ausstellung lesen, das sich auch leicht ins Deutsche übersetzen läßt. Es sind da, so kurz der Text auch ist, wichtige Gedankengänge enthalten, wie zum Beispiel die Verwerfung der geraden Linie und meine persönliche Bestrebung, den Anschluß der avanciert extremen Kunst und der übrigen Menschen zu vollziehen, und zwar durch Hinweis auf die künstlerische, wenn auch unbewußte Tätigkeit jedes Einzelnen alleine durch die Tatsache begründet, daß er eine ungeheure, schöne und künstlerisch perfekte Linie jedesmal auf dem Trottoir beschreibt, wenn er Milch einkaufen geht oder ins Büro läuft.

Wie gesagt, ich bin mitten in einem Abenteuer, dessen Ungeheuerlichkeit mein Dasein und meine »künstlerische« Tätigkeit rechtfertigt, ich kann aber nur sehr schwer und für den Laien sehr verworren darüber Auskunft geben. Ich kann beispielsweise momentan, das heißt, seit ich in meiner Richtung tätig bin, zwischen Kunst, Religion, Leben, Wissenschaft, Natur, Literatur, Mystik und Musik keine Grenzlinien ziehen, und so wird Ihnen das, was ich jetzt und in der Folge Ihnen angebe, sehr unpräzise, wenn nicht gar abnorm vorkommen, was aber so sein muß, da ich mich auf Neuland befinde und man bekanntlich in der ersten Wahrnehmung stets alles seltsam vergrößert oder verzerrt konzipiert, da das Netz der Verbindungen und Hintergründe zwischen den zuerst erkannten sensationellen Entdeckungen erst später bekannt wird.

Mein bisheriger Werdegang war der normale, so normal wie Volks-Mittel-Hochschule, nämlich Abzeichnen wie Rudolf v. Alt, Impressionismus, Expressionismus wie Schiele und van Gogh, noch tieferer Expressionismus wie Paul Klee, dann »Automatismus« und Wissen um die Strukturen und Gewebe der Pflanzen, der Erde und der menschlichen Ansiedlungen (von oben gesehen) unter Umgehung des Kubismus und der jetzt noch überall vorherrschenden geometrischen Abstraktion (Mikl) und eines großen Teils des österreichischen Surrealismus (Fuchs, Hausner). Und jetzt mein Abenteuer im Neuland, wobei ich nur bei Gleichaltrigen und Jüngeren ähnliche Bestrebungen erkenne und so meine Bemühungen im Wesen und in der Zielrichtung gerechtfertigt sehe.

Schade, daß Sie nicht nach Paris kommen und meine letzten Dinge sehen können, es sind, ich glaube, ich kann schon so sagen, Schöpfungen, so wie eine Blume und ein Baum Schöpfungen sind. Tatsächlich gehe ich nach Beendigung des Bildes in den Garten und vergleiche mein Bild mit den Pflanzen, oder, wenn kein Garten da ist, mit den Sprüngen im Trottoir oder mit dem Lauf der Uringerinsel. Ich bin erst zufrieden, wenn ich die Überzeugung gewonnen habe, daß ich zufolge eines nüchtern-bewußten Gedankenprozesses genauso Ungeheueres, Unkontrollierbares, Unbeschreibbares, Unkopierbares, Unberechenbares und Feines getan habe wie zum Beispiel das Geäder auf einem Blatt, oder die Aufteilung von Menschen oder Pflanzen auf einer Fläche. Die äußeren Formen sind natürlich absolut verschieden. Ich vergleiche nur die inneren Kräfte.

Meine »künstlerische Tätigkeit« bleibt lange schon nicht mehr auf das Wort Kunst beschränkt, sowie auch das Wort Kunst für die ganze jetzige Gestaltung nicht mehr hinreichend ist und nur zu Mißverständnissen führt. Was jetzt getan wird, ist nicht mehr Kunst im alten Sinne, sondern vielmehr eine gewisse Verantwortung, die einige Leute auf sich nehmen, um die anderen auf riesige Gefahren aufmerksam zu machen.So zum Beispiel die Gefahr der Kollektivierung, die sich des Standards und der geraden Linie bedient. Anhand meiner Erfahrung durch meine »künstlerische Tätigkeit«, das heißt Wissen um die normale Aufteilung von Punkten und Flecken auf dem Papier und Wissen um die normale Linie, kann ich sofort die Gefahr einer in geometrische Rechtecke gepreßten Marschkolonne erkennen, sei es eine faschistische, kommunistische oder amerikanische, ebenso die Gefahr von auf Grundlage der geraden Linie konzipierten modernen Architekturen für die Menschen, die nichtsahnend darin wohnen werden. Ebenso die Gefahr der Millionen gleicher Löffel (Standard-Massen-Produktion in Amerika) und die Gefahr der millionenfachen Reproduktion gleicher Schlagworte und Thesen und Uniformisation (in Rußland). Das Problem ist sehr komplex, wie Sie wissen, doch damit Sie verstehen, in welcher Hinsicht beispielsweise Kunst und Politik sich vermischen können.

Vermischung von Kunst und Wissenschaft: Sie wissen um die Tendenz der Wissenschaft, alles ergründen zu wollen, und deren Präpotenz, sogar in Kürze Zellengewebe, Leben, und später auch Menschen schaffen zu können, und zwar auf rein empirischem Wege, auf dem Wege der Versuche und chemischen Formeln. Diese Bestrebungen sind dumm, sinnlos und gefährlich für den Rest der Menschheit, weil einschläfernd und der Möglichkeit der tatsächlichen Schöpfung beraubend, und sie werden niemals zu Resultaten kommen aus dem Grunde, weil 9,999999 niemals 10 ergeben wird, da der letzte Bruchteil, wie schon gesagt, jenes Unkontrollierbare, Unbeschreibbare, Unkopierbare, Unberechenbare ist, das sich zwar eindämmen, aber niemals überbrücken läßt und in der Übung dessen ich mich – sowie die heutige »Kunst« sich – oft befleißige. Andererseits ist die Kunst tatsächlichen Schöpfungen schon näher gekommen als die Wissenschaft. Ich möchte hinweisen auf den strukturellen Charakter der jetzigen Kunst. Ich selbst arbeite an Formen, die beispielsweise Jahresringen und Schnitten durch die Epidermis und durch die Erdrinde ähneln. Sowie auf die Bemühungen der Plastik, die Mobiles von Alexander Calder beispielsweise; die Erfindung des Mobiles überhaupt ist ein ungeheurer Schritt zu einer immer vollkommener werdenden Schöpfung.

Die Verbindung Kunst–Religion ist rasch hergestellt schon aus dem Grunde, weil die jetzige moderne Gestaltung selbst Religion sein will und weil die, die sie ausüben, eigentlich als Propheten von etwas Kommendem zu betrachten sind, die sich der Sprache der »Kunst« bedienen, weil das, was wir Sprache nennen, seine Wesenskraft verloren hat. Ferner stehe ich auf dem Standpunkt (wenn man schon von Religion reden will), daß der Mensch als Ebenbild Gottes (wie man ihn doch nennt) befähigt sein muß, selbst schöpferisch tätig zu sein. Und zwar jeder, nicht nur der »Künstler«!!! Denn sonst kann er ja gar nicht religiös sein. Und so bestreite ich die Religiösität der europäischen und amerikanischen Religionsgemeinschaften wie auch die Religiösität der kommunistischen Ideologien und zwar einzig und alleine schon auf Grund des Nichtvorhandenseins schöpferischer Fähigkeiten beziehungsweise mutwillige Zerstörung derselben, falls welche auftauchen.

Sie sehen, womit ich mich sowie die meisten »avantgardistischen Maler« sich beschäftigen, doch das ist nur ein winziger Bruchteil. Die heutige Kunst wird immer freier, nimmt aber gleichzeitig immer mehr Verantwortung auf sich und wird immer komplizierter, doch diese Komplexität ist ein gutes Zeichen, ist es doch das Leben heute auch. Ich könnte Ihnen noch lange schreiben über die psychologischen Wirkungen, die ich mit meinen »Bildern« anstrebe, und die Rückwirkungen auf mich selbst, die vom Betrachter ausgehen. Das Problem des Begreifens, Verstehens und des Vermittelnkönnens bleibt nach wie vor eminent. Von Abkapselung meinerseits kann nicht die Rede sein, wie Sie erkennen können, ganz im Gegenteil. Dann, ich möchte nicht als abstrakt oder figurativ usw. gekennzeichnet werden, da ich mir die Freiheit vorbehalte, mit propagandistischen, plastischen, psychologischen, ästhetischen, symbolischen wie auch dekorativen Mitteln meinem Willen Ausdruck zu verleihen, was der gleichzeitigen Ausübung mehrerer bekannter und noch unbekannter Ismen gleichkommt.

Herzlichst Hundertwasser

 

Brief an einen österreichischen Schriftsteller, der über Hundertwasser schreiben und etwas über sein Verständnis von Politik, Wissenschaft und Religion erfahren wollte, verfasst 1954

Publiziert in:

Ver Sacrum, Wien 1970.

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser - Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 32-35 und Ausgabe 2004 (München: Langen Müller Verlag), S. 25-28.

Das Hundertwasser Haus. Wien: Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag 1985, S. 43f. (Auszüge).  

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Köln: Taschen 1996, S. 44 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 30 (Auszüge).